Was bewegt den Menschen? Welche Werte und Sehnsüchte treiben ihn an? Seit dem Web 2.0 kann man das genau beobachten. Werte-Index-Macher Professor Peter Wippermann berichtet, wie der Werte-Index das macht und welche Werte denn nun für uns von besonderer Bedeutung sind.
Herr Wippermann, welche Daten werden im Werte-Index genau erhoben?
Wir versuchen, eine Verbindung herzustellen zwischen klassischen journalistischen Daten, die von Redaktionen und Nachrichtenagenturen ins Netz gestellt werden, von Bloggern, die themen-gebundene Texte veröffentlichen und von Social Media-Plattformen wie Facebook. Diese Verbindung ermöglicht es, einen relativ zuverlässigen Eindruck davon zu kriegen, wie die Verteilung und Interpretation von Werten aussieht. Unabhängig von der Professionalität der Texte.
Sind denn die Daten, die im Internet erhoben werden, repräsentativ für die gesamte Gesellschaft?
Der Begriff “repräsentativ” kommt aus der Marktforschung. Die kleinste Einheit für eine repräsentative Untersuchung sind 500 Personen und üblicherweise ist es so, dass man 1000 Personen befragt. Das, was wir in der Social Media-Analyse machen, kommt aus der Trendforschung. Das heißt, man fragt Leute nichts, sondern beobachtet sie. Wir beobachten rund 100.000 Seiten, so dass wir sagen können, dass unser Beobachtungs-Spektrum extrem zuverlässig ist. Man muss allerdings berücksichtigen, dass wir etwa ein Viertel aller Bundesbürger nicht erfassen, weil sie nicht im Netz aktiv sind.
Und was ist der aktuelle Trend im Wertewandel?
Wir erheben unsere Daten seit 2009. Damals war Social Media-Analyse noch ganz neu. Man kann also die Werte vergleichen zwischen 2009 und 2012. Hier sieht man auf der einen Seite eine quantitative Verschiebung: Was ganz deutlich ist — vor allem durch den Siegeszug vom Web 2.0 — ist die zunehmende Bedeutung des Themas Gemeinschaft. Das beschäftigt tatsächlich drei Viertel der Bundesbürger maßgeblich. Und dass die Werte Familie und Gesundheit, aber auch Anerkennung und Gerechtigkeit aufgestiegen sind, während unter dem Aspekt der Finanzkrise die Themen Erfolg, Natur und Einfachheit deutlich zurückgegangen sind. Das hat vor allen Dingen damit zu tun, dass die Finanzkrise plötzlich wichtiger war als der Klimawandel.
Macht das Internet es einfacher, die Werte der Menschen herauszufinden?
Ja, auf jeden Fall! Wir haben plötzlich nicht nur eine veröffentlichte Meinung durch professionelle Beobachter wie Journalisten, sondern auch tatsächlich umfangreiche und massenhafte Original-Töne von den Bürgern selbst. Der Austausch über digitale Medien ersetzt sozusagen den früheren Austausch in räumlicher Nähe; nämlich, dass Leute sich miteinander unterhalten, dass sie Themen interpretieren, dass sie Meinungen bilden. Früher konnte man das nicht beobachten, weil man nicht gleichzeitig überall Mäuschen spielen konnte. Heute kann man das über Datenanalyse und Tracking-Methoden machen.
Was sind denn die Hauptwerte, die im Internet von Bedeutung sind?
Ich glaube der Hauptwert ist nach wie vor Freiheit. Da kann man deutlich auch die Verschiebung der Interpretation sehen und das ist ja das zweite Wichtige, was wir ermitteln wollen. Nämlich nicht nur, welche Werte an erster, zweiter oder dritter Stelle sind, sondern auch, wie sie aktuell verstanden werden. Unter dem Thema Freiheit gab es mal das Thema Reisefreiheit, als es noch vor dem Mauerfall Ost-West-Blöcke gab, dann gab es Konsumfreiheit, Lifestyle-Freiheit, also die Interpretation des Konsums. 2009 war es das Thema ökonomischer und technischer Zugang zum Internet, also Beteiligung in der virtuellen Welt. 2012 hat sich der Begriff von der Technik total verabschiedet und ist in Richtung Autonomie gegangen. Also: Wie kann ich mein Leben so gestalten, dass ich unabhängig bin von Institutionen? Das hat vor allen Dingen etwas damit zu tun, dass die Politik-Verdrossenheit und die Enttäuschung über Institutionen — zum Beispiel Banken — so tief ist, dass die Leute sich lieber um sich selbst kümmern. Ein anderer interessanter Wert ist Familie. Familie ist ein totales Sehnsuchts-Feld, obwohl wir natürlich wissen, dass wir überwiegend nicht mehr in einer Familie leben. Nur noch 49 Prozent der Deutschen leben in Familien. Hier bildet hauptsächlich der Wunsch nach Familie den Gesprächsstoff. Die Sehnsucht nach einer Gruppe von Menschen, die man selber mitgestaltet, nämlich eine Familie, die möglichst längerfristig mit einem verbunden ist. Das hat einen hohen Wert, ist aber gleichzeitig mit extrem vielen Ängsten belegt. Zum Beispiel die Angst davor, eine Familie nicht ernähren zu können. Man kann also sehen, dass zwar keine Familien entstehen, aber dass die Sehnsucht trotzdem ganz massiv vorhanden ist.
Sind die Werte, die sich im Internet zeigen, die gleichen, die auch außerhalb des Webs eine Rolle spielen?
Wenn man das Thema “Werte” in Unternehmen oder Institutionen außerhalb des Internets betrachtet, geht es meist um disziplinarische und moralische Fragen. Was wir wissen wollen ist eher: Wie wünschen wir uns zu leben? Das kommt von der sogenannten Maslow-Pyramide, die versucht, unsere Bedürfnisse in eine Hierarchie einzuordnen. Und das hat eben nichts mit Moral zu tun, sondern mit individuellen Wünschen und Sehnsüchten. Für mich ist Freiheit wichtig, für mich ist Familie und Gesundheit wichtig, aber Erfolg ist nicht mehr so wichtig. Und ich glaube, das ist das Interessante, dass wir sozusagen immer zwei Seelen in der Brust haben. Einmal das, was wir eigentlich machen wollen, und einmal das, was wir tatsächlich tun. Was wir hier abbilden ist sozusagen das Sehnsuchts-Feld, also was die Leute interessiert und was sie sich wünschen.
Dann ist es also wichtig, dass wir uns mit unseren Werten auseinandersetzen?
Individuell schon. Für Unternehmen ist es vor allen Dingen interessant, dass es nicht nur um technische Vernetzung geht, sondern auch um kulturelle Vernetzung. Das kann man bei den Communities sehr schön sehen. Diejenigen, die Communities beitreten, haben immer einen bestimmten Werte-Set-Anker, der alle vereint. Hier wird es dann ökonomisch interessant, tatsächlich mit Werte-Management und Reputations-Management Strategien in der Wirtschaft zu entwickeln.
Inwiefern ist es wichtig, sich an seine eigenen Werte zu halten, um glücklich zu sein?
Ich glaube, dass wir natürlich Vorstellungen brauchen, zu denen wir uns hinentwickeln wollen und denen wir auch nachgehen. Und ich würde sagen, genau das findet man in dieser Wertewelt wieder. Das heißt, wenn ich die Sehnsucht habe, autonom leben zu können, ist es für mich außerordentlich wichtig, das auch umzusetzen. Dann habe ich auch ein gutes Gefühl und bin glücklich. Wenn man sieht, dass Erfolg als Wert abgestürzt ist, dann geht unsere Sehnsucht weg von einer materiellen Welt hin zur immateriellen Welt. Geld und Glück wird plötzlich gleich gewogen. Die Leute sind eben nicht mehr bereit, ihre Freizeit total aufzugeben, um ausschließlich zu arbeiten, sondern sie möchten lieber ihre Freizeit in Anspruch nehmen und eventuell sogar mit weniger Geld auskommen. Sich selber treu zu bleiben ist, glaube ich, etwas, das enorm wichtig wird, wenn die Gesellschaft mit ihren Institutionen nicht mehr die Rituale bestimmt, die unserem Alltag Halt und ein Fundament geben. Wir brauchen also einen neuen Quellcode, um uns wohlzufühlen – und das kann zum Beispiel sein, sich an die eigenen Werte zu halten.
Weitere Informationen:
Der Werte-Index 2014 erscheint Ende des Jahres
Die Fragen stellte: Manuela Hartung