Wenn man die vielen perfekten Yogafotos auf Facebook, Instagram und Co sieht, könnte man glauben, in der Yogapraxis ginge es hauptsächlich um die Asanas. Je schwieriger die Körperhaltung, desto fortgeschrittener das Yoga? So einfach ist das nicht, findet unsere Redakteurin und Yogalehrerin Melanie Lotz. Oder vielmehr: So kompliziert ist das nicht. Yoga entfaltet seine Zauberkraft nicht erst im Handstand, sondern bereits mit dem allerersten bewussten Atemzug. Mit einer inneren Haltung der Achtsamkeit kann jeder fortgeschrittenes Yoga üben – ab sofort!
Es gibt ungefähr eine Millionen Gründe, um mit Yoga anzufangen. Um nur einige zu nennen: Manche bekommen es vom Arzt gegen Rückenschmerzen empfohlen. Andere als Entspannungsmethode bei Stress-Symptomen. Wieder andere erhoffen sich, einige Kilo abzunehmen. Manche kommen aus der Meditation und möchten den Körper in ihre spirituelle Praxis mit einbeziehen.
Keiner dieser Gründe, um mit Yoga anzufangen, ist besser oder schlechter. Die meisten bemerken schon in der ersten Yogastunde, dass diese Praxis weit mehr ist als eine bessere Krankengymnastik und auch mehr als ein Fitnessprogramm.
Man sieht es an ihrem seligen und friedlichen Lächeln, wenn die Schüler aus dem Kurs kommen: Da passiert mehr im Yoga als ein körperliches Workout. Wenn überhaupt Workout, dann ist es eins für alles: Körper, Geist und Seele. Wer einmal angebissen hat, für den ist Yoga so etwas wie eine Glückspille, die süchtig macht. Im guten Sinne.
Yoga als athletische Übung?
Deshalb finde ich es immer sehr schade, wenn Yoga schlicht mit Sport gleichgesetzt wird. Ich habe nichts gegen Sport und ich schwitze sehr gerne auf meiner Yogamatte. Doch wenn eine Jahrtausende alte, fernöstliche Philosophie in westlichen Fitnessmagazinen auf die “5 besten Yogaübungen zur Fettverbrennung” reduziert wird, dann muss ich schon mal kurz schlucken. Weil Yoga für mich sehr viel mehr bedeutet, als ein paar athletische Gymnastikübungen, muskulöse Oberarme, eine schmalere Taille oder “besseren Sex”.
Yoga kann das alles, sicher. Doch Yoga ist vor allem ein Weg der Selbsterfahrung, auf dem wir früher oder später spüren: Die Taille und die Oberarme sind nicht wirklich wichtig. Und die perfekte Pose auch nicht.
Worum geht es eigentlich im Yoga?
Ich kann natürlich nicht für jeden einzelnen sprechen, der jemals Asanas, die Körperhaltungen des Yoga, geübt hat. Doch nach meiner persönlichen Erfahrung, mit mir selbst und anderen, wage ich die Behauptung: Yoga verändert die Menschen, die es üben. Nicht nur körperlich, sondern insgesamt in ihrer Einstellung zum Leben. Viele spüren sich in den intensiven Körper- und Atemübungen vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben so intensiv, dass sie, je länger sie üben, automatisch immer mehr das Bedürfnis spüren, sich auch jenseits der Matte Gutes zu tun. Ungesunde Gewohnheiten zu ändern. Manchmal ganze Berufslaufbahnen oder Beziehung zu überdenken.
Yoga ist der Weg der Selbsterkenntnis, so sagt es auch das Yogasutra des Patanjali. Wenn wir über die teils sehr anstrengenden Körperübungen des Yoga für ein bisschen Ruhe im Kopf gesorgt haben, wenn wir über den tiefen Atem des Yoga unserem Herzen nahe gekommen sind, dann erkennen wir, was uns wirklich wichtig ist. Und das verändert, wie wir unser Leben gestalten.
“Mini-Erleuchtungen”: Mehr Klarheit, Zuversicht und Perspektiven im Leben
Das Yogasutra ist ungefähr 2000 Jahre alt und nicht nur eines der ältesten Schriftzeugnisse des Yoga sondern nach wie vor eines der wichtigsten. Patanjali beschreibt darin den Weg der Selbsterkenntnis, der schließlich zur Erleuchtung führen kann: Der Auflösung unseres Ich-Gefühls und damit der Erfahrung des völligen Einsseins mit uns selbst und dem Universum. Samadhi, so heißt Erleuchtung auf Sanskrit: Die absolute Freiheit und Glückseligkeit.
Doch selbst wenn wir nicht gleich die ultimative Erleuchtung anstreben: Es hat etwas von “hell werden” und “klar sehen”, wenn wir durch die Yogapraxis plötzlich am eigenen Leibe erfahren, dass das Leben leichter und strahlender sein kann, als wir es bisher für möglich gehalten haben. Und dass es viel mehr in unseren Händen liegt, dieses Glück, als wir es vielleicht bisher vermutet hatten.
Fortschritte auf dem Weg zu innerem Wachstum
Gerade weil Yoga uns so viel Zuversicht und positive Perspektiven schenkt und dabei so ein persönlicher Weg ist, stolpere ich immer mal wieder über die Bezeichnung “fortgeschritten” im Yoga: Meist ist damit eine gesunde Ausrichtung in der Asanapraxis und das Üben von schwierigen Positionen gemeint. Das ist natürlich nicht ganz falsch: Je länger wir den herabschauenden Hund, die Krieger und Balanceübungen üben, desto leichter fallen sie uns. Dennoch gehört zum Yoga doch auch ein inneres Wachstum, das wir von außen gar nicht einschätzen können.
Einer Tänzerin fallen die Dehnübungen der Asanapraxis leicht, ein Akrobat steht wie eine Eins im Handstand – zu fortgeschrittenen Yogis macht sie das nicht automatisch. Fortgeschrittenes Üben bedeutet vor allem, dass wir uns selbst achtsam begegnen und dass wir eben nicht immer an die Grenzen unser Leistungsfähigkeit gehen, nur weil wir es können. F
ür sehr ehrgeizige Menschen kann fortgeschrittenes Üben bedeuten, dass sie einfach mal still sitzen und bewusstes Atmen üben. Für viele ist das mindestens eine ebenso furchteinflößende Vorstellung wie der Gedanke an eine tiefe Vorbeuge im Sitzen oder an einen Handstand im freien Raum.
“Fortgeschritten” scheint mir auch eher ein Begriff zu sein, der den Ehrgeiz in uns weckt, mehr Leistung zu bringen, tiefer zu gehen oder höher, jedenfalls irgendwie “weiter”. Ich schließe mich da gar nicht aus, auch ich möchte sehr gerne irgendwann mal im freien Raum auf Händen balancieren – das muss ein wundervoll kraftvolles Gefühl sein. Dennoch erinnere ich mich auch immer wieder selbst, daran, dass es beim Yoga doch eher um den Weg geht als um das Ziel und um das liebevolle Beobachten: Wie fühle ich mich heute? Was brauche ich heute? Wie weit geht es heute?
Man kann es auch einmal spielerisch anders herum drehen: Wie wild muss die Asanapraxis heute sein, damit ich Ruhe finde? Wie viel Anstrengung brauche ich heute, bevor ich wieder zu mir komme?
Achtsamkeit im Yoga: Der Fortschritt liegt in der inneren Haltung
So können wir von außen betrachtet vielleicht die Asanas gemessen an dem erforderlichen Krafteinsatz und dem Maß an Flexibiltät in grobe Schwierigkeitsgrade einordnen. Doch der wirkliche “Fortschritt”, der wahre Wachstum liegt für mich in einer inneren Haltung der Achtsamkeit, die wir in den Asanas üben: Weg von Härte, Leistungszwang, Erfolgsdruck hin zu dieser wohltuenden Balance von Kraft und Weichheit, die Patanjali im Yogasutra als die ideale Haltung beschreibt: Sthira Sukhamasanam.
Das Sutra 2.46 ist eines der bekanntesten und bedeutet: Ohne Halt, keine Leichtigkeit. Ohne Weichheit, keine Stärke. Das mag für die einen bedeuten, ihren Eifer etwas zurück zu nehmen und für die anderen, sich etwas mehr zuzutrauen.
Die Yogapraxis ist kein Ponyhof: Manchmal möchten wir wegrennen
Und da sind wir schon mitten in Svadhyaya: Das Selbststudium ist eines der Niyamas, der Empfehlung des Yogasutra für den Umgang mit uns selbst. Das gehört eben auch zum Yoga. Die Asanas sind das Spielfeld, auf dem wir herausfinden, wie wir uns zu verschiedenen Situationen verhalten. Wir funktionieren auf der Matte nicht nur und füllen sportliche Formen aus, die der Lehrer vorgibt. Wir lernen, uns intensiv zu spüren und auf unsere Bedürfnisse zu hören. Uns selbst nahe zu sein und das auszuhalten ist eine nicht zu unterschätzende Herausforderung.
Herausgehoben vom Alltag und ohne die üblichen Ablenkungen sind wir auf der Matte alleine mit unseren Gedanken und Gefühlen, die durch die manchmal sehr angenehme, und manchmal eben auch sehr fordernde Praxis hervorgerufen werden.
Yogaschulen machen uns das Üben mit schön eingerichteten Räumen, wohlriechenden Räucherdüften, beruhigenden Farben und Entspannungsmusik so angenehm wie möglich. Dennoch, die Asanapraxis ist wie das echte Leben: Kein Ponyhof. Manchmal möchten wir am liebsten wegrennen und können uns nicht entscheiden: Sollen wir schimpfen, weinen oder laut lachen?
Selbsterkenntnis: Im Yoga begegnen wir uns schonunglos selbst
Gerade die Asanas, dir wir nicht mögen, sind unsere besten Meister: In diesem verdammten Sprung, der uns innerlich in die Flucht treibt… In dieser anstrengenden Haltung, in der wir lieber sofort sterben möchten als nochmal fünf Atemzüge in ihr auszuharren. Immer wenn wir im herabschauenden Hund doch noch an unseren Hintern denken, den wir zu dick finden, oder an die vielen Emails, die wir noch beantworten müssen, gleich nach der Yogastunde… In all diesen Momenten auf der Matte begegnen wir schonungslos und ehrlich uns selbst.
Das ist die wundervolle Chance, die Yoga uns bietet: Uns selbst mit all dem, was wir mit uns herum tragen, kennen zu lernen. Und immer mehr von der Vorstellung aufzugeben, wie wir angeblich sein müssten.
Yoga lehrt uns Liebe und Hingabe
Das jedenfalls ist für mich Yoga – mehr als alle herabschauenden Hunde, Kobras, Kopfstände, Skorpione oder einarmigen Handstände im freien Raum: Das Üben einer inneren Haltung von tiefer, ehrlicher Selbst-Akzeptanz und Selbstliebe. Alles weitere folgt: Das Annehmen anderer, wie sie sind. Das Annehmen des Lebens, wie es ist. Yoga bedeutet Einheit und Verbindung: Mit uns selbst und der Welt.
Die Praxis beschränkt sich nicht auf die Matte. Auch jenseits davon beginnen wir uns immer öfter dafür zu entscheiden, das Leben lieber fühlen wollen, als uns ewig abzulenken und zu betäuben. Uns und anderen lieber Gutes zu tun, als ewig zweifelhaften Zielen hinterherzurennen. Lieber grandios zu scheitern als es gar nicht erst versucht zu haben. In der Yogapraxis erfahren wir unmittelbar über unseren Körper, dass das Leben doch noch ein bisschen mehr bietet, als perfekt trainierte Oberarme und eine Aneinanderreihung von scheinbar erstrebenswerten Erfolgen in Beruf und Freizeit.
Yoga lehrt uns, unserem Herzen zu folgen, auch wenn dessen Wege manchmal unvernünftig und wirr erscheinen.
Wir bleiben Anfänger, ein Leben lang
Vielleicht ist das der eigentliche Fortschritt, dieser Schritt ganz tief in uns hinein. Dennoch: Lieben, auch das bleibt ein lebenslanges Üben, nicht wahr? Vor allem ein Aus-üben, ein bewusstes Handeln: Sich öffnen, auch zu unangenehmen, unbequemen Erfahrungen Ja sagen, dafür müssen wir uns immer wieder neu entscheiden. Wir werden uns immer wieder verändern und uns neu kennen lernen müssen.
Wir sind Anfänger, das lehrt uns nicht das Yoga, das zeigt uns das Leben. Und zwar am liebsten dann, wenn wir gerade mal wieder glaubten, dass wir es jetzt doch endlich verstanden hätten, wie das geht, dieses Leben.
Wenn wir dann doch wieder ins Stolpern und Fallen geraten, ist die regelmäßige Yogapraxis unser sicheres Netz, ein Zuhause, das uns auffängt. Auf der Matte fallen wir einigermaßen weich. Auf der Matte ist jeder Schritt der erste im Hier und Jetzt. Jeder tiefe Atemzug erneuert uns. Auch deshalb sind wir Anfänger: Weil nichts bleibt, wie es ist. Auch der tollste Handstand verändert sich im Laufe der Jahre und es bleibt uns einfach nichts anderes übrig, als uns in diesem Handstand immer wieder neugierig selbst zu begegnen.
Deshalb sind wir alle immer Anfänger und Fortgeschrittene zugleich: Yoga Einsteiger haben es etwas leichter im staunenden Anfänger-Sein, weil für sie so vieles tatsächlich der erste Schritt, das erste Mal auf der Matte ist. Eine Herausforderung an Yogis mit mehr Erfahrung ist es, immer wieder zu dieser kindlich-wertfreien Anfänger-Haltung zurückzukehren.
Im Yoga können wir das Leben spielerisch erfahren. Mehr noch: Wir lernen, das Leben mit all seinen Facetten hemmungslos zu zelebrieren. In diesem Sinne: Ein Ohm auf das Leben! Namasté…!