Immer mehr Menschen in Deutschland praktizieren Yoga, um ihrer Gesundheit etwas Gutes zu tun. Dass Yoga wirkt, darüber sind sich inzwischen auch Ärzte und Wissenschaftler einig, denn es hat nachweisbar positive Auswirkungen auf die Gesundheit. Martin Soder, Arzt und langjährig praktizierender Yogalehrer, hat in dem zusammen mit Imogen Dalmann geschriebenen Buch “Heilkunst Yoga – Yogatherapie heute” einen umfassenden Ansatz für Yogatherapie dargestellt. Wie Yoga uns helfen kann, gesund zu bleiben und sogar wieder gesund zu werden, das erfahren wir im folgenden Interview von Herrn Soder persönlich.
Das Interview führt: Annette Coumont
Herr Soder, was verstehen Sie unter Yogatherapie?
Im Mittelpunkt von Yoga als Therapie steht eine regelmäßig und selbständig geübte Praxis. Ihr Inhalt sind ausgewählte Varianten von Âsanas, der Situation angemessene Prânâyâmas, also Atemübungen und ganz unterschiedliche Übungen, in denen eine achtsame Ausrichtung im Mittelpunkt steht.
Diese Praxis wird individuell konzipiert, ebenso unterrichtet und immer wieder dem Therapieverlauf angepasst. Natürlich geht es in einer Yogatherapie zuerst darum, Beschwerden zu verringern oder gar zu beseitigen, also Heilungsprozesse unmittelbar zu unterstützen. Doch es gibt noch andere wichtige Aspekte. So erlaubt eine selbständig geübte Praxis die aktive Teilnahme am Heilungsprozess. Auch hilft Yogapraxis immer wieder, die Möglichkeiten in der Bewältigung von Einschränkung und Leid zu erweitern.
Unsere Erfahrung zeigt übrigens, dass Yogatherapie oft in einem Konzert verschiedener Instrumente spielt, die eine betroffene Person für ihre Gesundung gewählt hat, das heißt Yoga erweist sich als kompatibel mit allen anderen seriösen Therapiesystemen.
Kann Yoga wirklich Krankheiten heilen?
Jeder Yogaweg verspricht ja heilende Wirkungen auf unsere Gesundheit. Ist Yoga wirklich immer heilend?
Keineswegs. Wir wissen heute, dass nicht nur Âsanas Menschen krank machen können. Einer Heilung können auch bestimmte Vorstellungen entgegenstehen, die in manchen Yogakreisen noch immer gepflegt werden. Zum Beispiel wenn geglaubt wird, allein positive Gedanken würden ausreichen, um eine ernsthafte Erkrankung abzuwenden und wichtige Diagnostik oder schulmedizinische Behandlungen zu spät oder gar nicht in Anspruch genommen werden.
Die eng mit der indischen Religiosität verbundenen Yogawege haben oft eine viel zu mechanistische und vereinfachende Vorstellung von Krankheitsprozessen. Ratschläge, die aus einem solchen Weltbild heraus gegeben werden, sind in einer ganzheitlichen Bewältigung einer Krankheit meist kontraproduktiv.
Was macht Ihren Ansatz des Yoga als Heilmethode besonders?
So besonders ist dieser Ansatz gar nicht. Er stützt sich auf Konzepte und Erkenntnisse, die auf die eine oder andere Weise jeder ganzheitlichen und seriösen Heilmethode zugrunde liegen: Wir benutzen eine Diagnostik, mit deren Hilfe wir uns ein Bild machen können, welche Übungen für eine bestimmte Person in Frage kommen, welche Übungen nutzlos sind und welche eher schaden würden.
Wenn wir für jemanden mit chronischen Rückenschmerzen eine Praxis erarbeiten wollen, geht es zum Beispiel auch darum, herauszufinden, mit welchen Âsanas ein so gestörter Rücken angemessen aktiviert werden kann.
Wir beobachten die Reaktionen auf die Praxis bestimmter Âsanas und lernen daraus, das richtige Maß für die schließlich zu Hause geübten Varianten zu finden. Wir können Übungsschritte wählen, die zeigen, welche Atemübungen machbar sind und effektiv helfen, für genau diese eine Person Stress zu reduzieren. Soviel zur Diagnostik.
Dann arbeiten wir extrem individuell und variantenreich. Es gibt nicht die Übung gegen Rückenschmerz oder die Abfolge gegen Bluthochdruck. Eine Praxis wirkt immer in ihrer Gesamtheit und jeder Mensch reagiert auf eine Übung anders.
Wir arbeiten prozessorientiert. Das heißt, wir gehen nicht davon aus, mit dem ersten Praxisvorschlag schon eine optimale Übungsreihe erarbeitet zu haben. Vielmehr brauchen wir die Rückmeldung unserer Klienten im Üben ihrer Praxis: Was waren die Wirkungen, waren die Anforderungen angemessen, wo ergaben sich unerwartete Schwierigkeiten im Üben?
So erhalten wir immer mehr jene Einsicht in die so unendlich komplexe Wirklichkeit eines Menschen und seines Leidens, aus der sich schließlich eine effektive und gern geübte Praxis entwickelt. Meist genügt es uns, wenn wir das selbständige und regelmäßige Üben mit fünf bis sechs Terminen begleiten, die sich über einige Monate verteilen.
Arbeiten Sie in Ihrem Ansatz mit anderen Spezialisten wie Ärzten oder Physiotherapeuten zusammen?
Patienten werden uns geschickt vor allem von Ärzten und Psychotherapeuten, die unsere Arbeit kennen. Der Kontakt mit Physiotherapeuten ist eher selten. In unseren Ausbildungen haben wir allerdings jedes Mal Physiotherapeuten, die ihre Arbeit mit Hilfe von Yoga bereichern wollen.
Das sind die Stärken der Yogatherapie
Wie wirkt Yogatherapie und wo sind ihre Stärken?
Yogatherapie wirkt einmal über die Reduktion und Beseitigung von Beschwerden – der vorher chronisch verspannte Rücken ist wieder stabil, das schmerzhafte Knie ist wieder belastbar, die Migräne ist weniger häufig, vielleicht auch weniger stark, der Blutdruck mehr oder weniger gesenkt.
Wir verdanken solche Wirkungen einer Aktivierung der Ressourcen eines Menschen zur Selbstheilung. Über diese Aktivierung wird heute geforscht und sie wird immer besser verstanden. Was zum Beispiel unser Bewegungssystem angeht, steht dabei die Wiederherstellung einer gesunden neuromuskulären Balance und Aktivierung von Stoffwechselprozessen im Mittelpunkt.
Oder bei Störungen wie Migräne oder Bluthochdruck ist es vor allem eine Harmonisierung neurovegetativer Steuerungsprozesse. Dabei spielt natürlich eine große Rolle, dass alle diese Prozesse unmittelbare Auswirkung auf die psychische Befindlichkeit eines Menschen haben und umgekehrt: In welcher Stimmung jemand ist, beeinflusst jeden Gesundungsprozess.
Deshalb gilt es heute als sicher, dass die Art und Weise wie wir Yoga als Therapie verwenden seine Wirkung auch aus einer gelungenen Stressreduktion bezieht. Stress kann nicht nur krank machen, vor allem ist Stress ein Faktor, der Heilung blockiert.
Heilend wirksam ist auch die im Yoga gemachte Erfahrung von „Selbstwirksamkeit“. Jemand fühlt sich nicht mehr hilflos einer Krankheit ausgeliefert, sondern bekommt das Gefühl, selbst aktiv Einfluss darauf nehmen zu können. Durch intensive Forschungsarbeit gewinnt dieser Aspekt immer mehr Bedeutung für das Verständnis von therapeutischen Prozessen.
Schließlich bezieht Yoga auch Wirkung zuletzt aus Erweiterung der Möglichkeit, mit Schmerz, Leid und Einschränkungen besser umgehen zu können. Das meint freier zu werden in der Bewertung einer Situation. Auch die Fähigkeit, aus unangemessenen negativen Denkschleifen herauszufinden. Das sind einige der Konzepte, die Yogatherapie ausmachen.
Bei welchen Erkrankungen oder körperlichen Schwächen kann Yogatherapie konkret helfen? Gibt es hierzu konkrete Erkenntnisse aus der Wissenschaft?
Stressreduktion, die Stärkung körpereigener Abwehrkräfte, die positive Wirkung körperlicher Bewegung oder die Verbesserung der Stimmung – für solche Ziele kann Yoga unter allen Umständen von Nutzen sein. Vorausgesetzt natürlich, die Praxis ist der besonderen Situation eines Menschen wirklich angemessen.
Wissenschaftliche Studien zu Yoga als Therapie gibt es inzwischen zahlreiche (PubMed, die größte medizinische Datenbank der amerikanischen Gesundheitsbehörde zählte im Februar 2015 etwa 3000 Studien, die sich mit Yoga beschäftigen).
Eine Wirksamkeit nachgewiesen ist vor allem für Erkrankungen, wie chronische Schmerzen des Bewegungssystems, Migräne, Bluthochdruck oder depressive Verstimmungen. Auch wenn es in den letzten Jahren deutliche Verbesserungen gab, wird allerdings noch immer die Qualität vieler Studien kritisch gesehen. Manche genügen einfach noch nicht den hohen Standards, die für wirklich verwendbare Daten nötig sind. Aber es steht heute außer Frage: Yoga kann heilen.