Ob Pegida, die Attentate von Paris oder Prügeleien in der U-Bahn: Überall um uns herum haben Menschen irre Wut im Bauch. Oft ist das abstoßend, mit Gewalt und Pöbelei wollen wir nichts zu tun haben. Aber wie dann mit unserem Ärger umgehen? Lieber runterschlucken? Über einen guten Weg, die eigene Wut rauszulassen.
In unserer Gesellschaft scheint die Wut auf dem Vormarsch. Und sie kommt aus der Mitte der Gesellschaft. Vor fünf Jahren ging es los, da strömten Tausende Bürger auf die Straße und protestierten gegen das umstrittene Bahnhofsprojekt Stuttgart21. Sie fühlten sich abgehängt von der Politik und zeigten klar ihren Unmut, viele lieferten sich sogar schmerzliche Gefechte mit bewaffneten Polizisten.
Die Medien waren alarmiert: Die ZEIT attestierte das „Ende der Konsensgesellschaft“ und SPIEGEL-Journalist Dirk Kurbjuweit erfand den Begriff des „Wutbürgers“, also des enttäuschten Bürgerlichen, der sich von der Politik abwendet. Doch spätestens seit Pegida hat die öffentliche Wut ein ganz neues Gesicht bekommen: Nun gehen in ganz Deutschland Tausende fahnenschwenke Bürger auf die Straße und protestieren gegen Ausländer, die „Lügenpresse“ und das Gefühl, zu kurz im Leben gekommen zu sein.
Konkrete Forderungen haben sie nicht, nur das starke Bedürfnis, ihrem tiefen Frust Luft zu verschaffen. Eine Form der Bürgerwut allerdings, mit der die wenigsten von uns zu tun haben wollen. Denn sie ist unangenehm, peinlich und irgendwie primitiv.
Wut unterdrücken oder Anti-Aggressionstraining?
Das wirft die Frage auf: Wie geht das überhaupt, Wut äußern? Wenn Pegida-Demonstranten Parolen rufen und Stuttgarter Rentnerinnen Eier auf Polizisten werfen, sieht das irgendwie peinlich aus. Wir können nicht zuschauen, ohne uns gleich fremdzuschämen. Schließlich sind wir ganz anders gepolt: Mühevoll haben wir über die Jahrzehnte gelernt, unsere Wut zu unterdrücken und die Sau eben nicht rauszulassen.
Denn heute sind vor allem Soft Skills gefragt: Ohne Teamfähigkeit und Selbstbeherrschung sind Arbeitnehmer kaum vermittelbar, auch in Partnerschaften ist Herumschreien tabu. Stattdessen unterdrücken wir lieber den Frust und gehen mit Magenschmerzen ins Büro.
Sogar unseren Kindern bringen wir früh bei, den Zorn unter Kontrolle zu bekommen. Wirft sich unser Kleinkind im Supermarkt auf den Boden und brüllt, finden wir das mit etwas Abstand amüsant, schließlich ist das Trotzen eine wichtige Entwicklungsphase. Aber wehe nicht. Tobt das Kind noch im Grundschulalter, empfiehlt die Lehrerin ein Anti-Aggressionstraining. Denn wer zu viel wütet, nervt und wird eh nicht ernstgenommen.
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Für die Wut gibt es also kaum Platz in unserer Gesellschaft. Starke Gefühle werden lieber wohldosiert vorgetragen. Die Öffentlichkeit schätzt allenfalls den „Ausraster“ in Sport oder Politik, wenn der Wütende so richtig Klartext spricht. Wie letztes Jahr, als Außenminister Frank-Walter Steinmeier mal austickte. Bei einer öffentlichen Veranstaltung in Berlin beschimpfte ein Demonstrant Steinmeier als Kriegstreiber – und der Außenminister ging senkrecht durch die Decke.
„Ihr habt kein Recht“, schrie er seine Widersacher mit verzerrtem Gesicht vom Podium nieder, „Die Welt besteht nicht nur aus Friedensengeln und Bösewichten“. Als er sich wieder setzte, war seine Brille beschlagen. Die Rede wurde zum Youtube-Hit: „Endlich mal klare Worte“ kommentierten viele User. Im richtigen Kontext kann Wut also durchaus das Ansehen erhöhen.
Frauen dürfen nicht wütend sein – Aggressionen sind Männerdomäne
Doch das gilt anscheinend nur für Männer: Stanford-Psychologieprofessorin Larissa Tiedens konnte in einer Studie unter Managern zeigen, dass diese eher befördert wurden, wenn sie ihre Wut regelmäßig zur Schau stellten. Weibliche Wut hingegen sei eher negativ konnotiert, so die amerikanischen Psychologieprofessorin Victoria L. Brescoll von der Yale University. Für ihre Studie mit dem Titel „Can an angry woman get ahead?“ zeigte Brescoll ihren Probanden Videos wütender Männer und Frauen und fand heraus: Die Wut der Männer wurde meist positiv gewertet, die der Frauen stets negativ.
Denn die zornigen Frauen wurden als emotional und hysterisch empfunden – warum sie wütend waren, spielte dabei keine Rolle. „Eine wütende Frau verliert an Status, ganz gleich, in welcher Position sie ist“, so Brescoll. Kein Wunder also, dass Spitzenpolitikerinnen wie Angela Merkel oder Ursula von der Leyen ihre Gefühle stets unter Kontrolle haben. Sie wollen nicht als kreischende Furien wahrgenommen werde, das untergräbt schließlich ihren Anspruch auf Macht und Autorität. „Wenn’s hart wird, werde ich ruhiger, und wenn ich richtig wütend bin, verstumme ich“, sagt die Kanzlerin. Und von der Leyen riet im Umgang mit cholerischen männlichen Kollegen: „Nicht zurückbrüllen, Stimme senken“.
Wie kann man Ärger rauslassen?
Doch wohin dann mit der Wut, die sicher auch Merkel und von der Leyen gelegentlich von innen entflammt. Muss sie überhaupt raus? Groll und Wut sollten unbedingt wahrgenommen werden, denn sie zeigen uns, dass eine Grenzverletzung stattgefunden hat, sagt der Hamburger Psychologe und Unternehmensberater Reinhard Ahrens: Unser Selbstwertgefühl, unsere Wertvorstellungen oder unser guter Ruf sind bedroht. Diesen Ärger zu unterdrücken sei ungesund für Körper und Seele, denn dann blieben wir einfach im unguten Gefühl stecken.
Gelegentlich empfiehlt sich sogar ein – wohlweislich kontrollierter – Gefühlsausbruch, um Situationen zu klären und Änderungsprozesse ins Rollen zu bringen. Klar trennen sollten wir dabei aber zwischen dem kontrollierten Sich-Luft-machen und der Aggression.
Während Wut per se nämlich nicht bedrohlich ist, zielt Aggression darauf ab, andere seelisch oder körperlich zu verletzen. Da ist es besser, das Gemüt zu kühlen und einen Puffer zwischen die Wut und die Handlung zu setzen – etwa indem man tief durchatmet, bis zehn zählt oder eine Nacht drüber schläft.
„Mir hilft zum Beispiel Laufen“, sagt Ursula von der Leyen, „Dann halte ich im Kopf die Brandreden, die ich immer schon mal halten wollte und dann ist der Frust weg“.
Den richtigen Umgang mit Wut und Aggressionen lernen wir von den Eltern
Die Frage ist vielmehr, wie wir mit unserer Wut umgehen, wenn sie uns ereilt. Denn wir können wählen, ob wir nur innerlich kochen, kontrolliert Dampf ablassen, andere anbrüllen oder gar zuschlagen. Wie genau wir unsere Wut äußern, hängt allerdings nicht nur vom konkreten Anlass ab, sondern auch von unseren Kindheitserfahrungen.
Kinder erlernen den Umgang mit Gefühlen von den Eltern und schauen ihnen ab, wie sie Stress und Ärger bewältigen. Können die Eltern mit der Wut ihres Kleinkindes besonnen umgehen und ihm beibringen, sich in stressigen Situationen zu beruhigen, findet das Kind mit großer Wahrscheinlichkeit irgendwann einen angemessenen und sozialverträglichen Umgang mit seinen Aggressionen. Sind die Eltern hingegen Choleriker, lernt das Kind keine Selbstregulation und neigt als Erwachsener womöglich auch zum Ausflippen.
Wut und Groll als Stellvertreter für andere Emotionen
Komplexer ist die Sache allerdings, wenn der Zorn in keinem Verhältnis zum Auslöser steht. Wenn also schon die Tatsache, dass der Partner mal wieder den gemeinsamen Abendtermin einzutragen vergessen hat, einen Wutausbruch triggert.
Oft stecken dann nämlich ganz andere Emotionen dahinter: etwa die Traurigkeit, nicht wertgeschätzt zu werden. Manchmal entstammen die Gefühle sogar der Kindheit, vielleicht der Erfahrung, im Leben der Eltern keine wichtige Rolle gespielt zu haben.
Wer seine eigenen Gefühle also nicht gut lesen kann, wandelt primäre Emotionen (Traurigkeit) schnell in sekundäre Emotionen (Wut oder Feindseligkeit) um: Er kann nicht über die eigenen Gefühle nachdenken, sondern muss sie gleich „wegagieren“.
Forscher wie die Psychoanalytiker Peter Fonagy und Mary Target haben in den letzten Jahren gut belegen können, dass gerade Menschen mit traumatischen ersten Lebensjahren diese beobachtende Meta-Fähigkeit des Nachdenkens über Gefühle nicht gut ausbilden können und zu „schwarz-weiß“ Denken neigen. Auch zwanghafte oder rigide Menschen verschieben bedrohliche Gefühle schnell in Hass oder Wut.
Gesund ist diese Verschiebung nicht, denn permanenter Ärger erhöht das Risiko eines Herzinfarkts dreifach. Losbrüllen nützt wenig, weil der Ärger viel tiefer sitzt. „Heftige Affekte sind oft lebensgeschichtlich gewachsen“, erklärt auch der Psychotherapeut Gerhard Bliesbach, Kolumnist von Psychologie Heute, „Sie wollen gehört und wahrgenommen werden“.
Wut ist häufig ein Anzeichen für Angst
Wie also umgehen mit der großen Wut um uns herum – dem latenten Hass im Hals, den viele Menschen hierzulande zu verspüren scheinen und auf die Straße tragen? Wir können davon ausgehen, dass hinter der Wut andere Gefühle stecken: Die Angst vor dem Fremden etwa, vor dem Neuen, vor dem Abstieg oder auch der Neid auf vermeintlich Bessergestellte. Der neue Wutbürger ist also zugleich ein impulsiver Angstbürger, der sich gegen alle wendet, die anders sind oder anders denken als er selbst.
„Wir sollten aufhören, ein Leben voller Fantasien über den Anderen zu leben“, bat der amerikanische Soziologe Richard Sennett jüngst bei der Eröffnung der Lessingtage am Hamburger Thalia Theater, „Mit Menschen zusammen zu sein, die anders sind, ist zwar zunächst eine störende Angelegenheit. Doch der Blick auf diese Spannungen kann unseren Blick schärfen, unsere Neugierde wecken, uns herausholen aus unseren engen Denkmustern“.
Statt in der Wut stecken zu bleiben, gilt es also, die eigenen Ängste wahrzunehmen und reflektieren können. Dann muss die Welt nicht mehr in „gut“ und „böse“ gespalten werden, sondern kann differenzierter betrachtet werden. Die dumpfe Wut könnte etwas Besserem weichen, neuen Handlungsstrategien oder Lösungsvorschlägen etwa.
„Der zurechnungsfähige Mensch kann immer auch anders, der unzurechnungsfähige nie“, schrieb Robert Musil in seinem großartigen Roman „Mann ohne Eigenschaften“. Denn die Wut ist ein toller Motor für Veränderung. Aber nur, wenn man ihn zu bedienen weiß.