“Der Schmerz ist dein Meister”, diesen Satz des indischen, weltbekannten Yogalehrers B.K.S. Iyengar kann jeder nachvollziehen, der schon mal unter starken akuten oder gar chronischen Schmerzen gelitten hat. Der Schmerz blendet oft jegliche andere Wahrnehmung aus und fokussiert unsere gesamte Aufmerksamkeit auf seine schmerzvolle Lektion. Markus Rachl erklärt uns im Interview, wie Schmerzen entstehen und wie man sie vermeiden kann.
Viele Menschen, die dauerhaft unter Schmerzen leiden, müssen ihr gesamtes Leben nach dem Schmerz – oder besser: um den Schmerz herum – ausrichten. Ständige Arztbesuche, Einnahme von Medikamenten oder dauerhafte Physiotherapie sind ein Teil davon.
Der andere Teil spielt sich mehr innerlich ab: Das Aushalten von Ängsten und Sorgen (gehen die Schmerzen nochmal weg?) und das Vermeiden weiterer Schmerzen (immer wenn ich zu lang laufe, habe ich Schmerzen) bis zur völligen Untätigkeit und Teilnahmslosigkeit führen nicht selten zu zusätzlichen depressiven Verstimmungen bis hin zu einer begleitenden Depression. Und dies verstärkt wiederum den Schmerz. Ein Teufelskreis des Schmerzes entsteht, der sich im ungünstigsten Fall immer weiter zuspitzt.
Erkrankungen unseres Muskel-Skelettsystems, wie zum Beispiel Bandscheibenvorfall und Rückenschmerzen, Kniefunktionsstörungen, Fibromyalgie, Arthrose oder Schulter-Arm-Syndrom, stellen laut WHO (Weltgesundheitsorganisation) weltweit die Hauptursache für chronische Schmerzen und körperliche Beeinträchtigungen dar. Denn in unseren Muskeln und Geweben spiegeln sich unsere gesamten Lebens-, Ausdrucks- und Bewegungsgewohnheiten.
Schmerzen haben oft seelische Ursachen
Schmerzen sind demnach nicht nur einseitig Ausdruck körperlicher Erkrankung oder Belastung, sondern haben oft auch seelische Ursachen, die im individuellen psycho-sozialen Kontext des einzelnen Menschen liegen. Ein Ungleichgewicht und negative Wechselwirkungen körperlicher und seelischer Faktoren sind also ausschlaggebend bei der Entstehung von Krankheit und Schmerz.
Wir möchten wissen, wie dieser Zusammenhang bei der Schmerzentstehung genau aussieht und welche Therapiemöglichkeiten es grundsätzlich gibt. Markus Rachl, Therapeut, Coach und Trainer für Muskelgesundheit, behandelt zahlreiche Menschen mit akuten und chronischen Schmerzen in seiner Praxis in Köln. Als Experte für evidero wird er uns im folgenden 2-teiligen Interview auf die drängendsten Fragen zum Thema Schmerz die wichtigsten Antworten geben.
Welche chronischen Schmerzerkrankungen gibt es?
Lieber Herr Rachl, welche sind die häufigsten Schmerz- und Krankheitsbilder, die Sie in Ihrer Praxis behandeln?
Die häufigsten Krankheitsbilder sind aus dem orthopädischen Bereich: Die klassischen Rückenschmerzen, Arthrosen, Wirbelsäulenveränderungen, Haltungs- und Wachstumsstörungen.
Aus dem neurologischen Bereich sind es Neuralgien, Lähmungserscheinungen unklarer Genese. Und ebenso viele Erkrankungen des gesamten „Bewegungsapparates“ mit seinen Muskeln, Sehnen, Gelenken, Bändern, zum Beispiel: Lumboischialgie („Hexenschuss“) – Bandscheibenvorfall – chronische Schmerzen – Kniefunktionsstörungen – Schulter-Arm-Syndrom – Fibromyalgie – Schleudertrauma – funktionelle Gelenkblockaden.
Hinzu kommen funktionelle Organstörungen, zum Beispiel funktioneller Bluthochdruck funktionelle Herzrhythmusstörungen und funktionelle Atembeschwerden (Asthma). Und über die Verbindung der Kopfgelenke mit Auge, Ohr und Kiefer auch Migräne, Kopfschmerz, Schwindel, Sehstörungen, Tinnitus und Kiefergelenkstörungen.
Mit meinen Lehrern aus der Psychotraumatologie behandeln wir auch Patienten, die psychische Traumata erleiden und deren Schmerzen deshalb oft chronisch werden.
Warum häufen sich viele Krankheitsbilder, wie der chronische Rückenschmerz? Es scheint ja nahezu, als wäre jeder im Leben mal davon betroffen?
Unser Organismus musste sich im Laufe der Evolution ständig neuen Umweltbedingungen anpassen können. Leider haben wir Menschen unseren Lebens- und Arbeitsraum so gestaltet, dass bei dieser schnellen und modernen Entwicklung unser Organismus mit der Anpassung nicht mehr mithalten kann. Dafür war unser Körpersystem nicht geplant. Da alle Menschen die gleichen anatomischen muskulären Strukturen in sich tragen (bis auf kleine Unterschiede zwischen Frauen und Männern), sind alle von den gleichen Symptomen betroffen.
Natürlich mit individuellen, der Lebensgeschichte zu zollenden, Abwandlungen. Hier spielen kulturelle Hintergründe, Unfälle, Sportarten, Erziehungserfahrungen, Schulerfahrungen, Ernährung und Partnerbeziehungen eine wichtige Rolle.
Der Unterschied zwischen chronischen und akuten Schmerzen
Es gibt ja akute und chronische Schmerzen, die behandelt werden müssen. Wo liegt hier der Unterschied?
Akute Schmerzen sind oft schnell in den Griff zu bekommen. Allerdings müssen wir in unserer Praxis unterscheiden zwischen akuten Unfällen, die am Ort des auftretenden Schmerzes zu behandeln sind (eventuell in Kliniken oder bei Ärzten) und Schmerzen, die ohne einen direkten, vorausgehenden Unfall auftreten.
Bei akuten Schmerzen ohne vorausgegangenem Unfall lassen sich oft mittels Röntgen oder Kernspinbildern keine Veränderungen am Ort des Schmerzes finden, die diesen hinreichend erklären könnten. Das erklären wir heute dadurch, dass sich muskuläre Spannung nicht mittels bildgebenden Verfahren oder im Blutbild nachweisen lassen.
Aber genau diese zu hohe Ruhespannung im Muskel hat sich oft als Schmerzursache herausgestellt. Sie stört die Bewegungsgeometrie der Gelenke, drückt auf die Nerven und Blutgefäße, so als ob jemand auf einem Schlauch steht. Unser Gehirn schützt dann diese Strukturen mit Schmerzen vor der Zerstörung.
Bei dieser zweiten Kategorie, also nicht primär traumatischen Schmerzen, hat uns die Hirnforschung entscheidende Fortschritte im Verständnis der Schmerzentstehung gebracht. Wir behandeln die Schmerzen nicht nur an dem Ort, an dem die Patienten die Schmerzen wahrnehmen. Oft muss auch am Kiefer behandelt werden, wenn der Fuß schmerzt oder umgekehrt.
Ein „nicht nur“ erfordert in der Folge ein „sondern auch”. Wir erleben, dass viele Patienten, die oft durch lange Behandlungen an dem Ort der Schmerzwahrnehmung behandelt werden, nicht selten in einem chronischen Schmerzgeschehen münden und dann operativ behandelt werden.
Wenn die Schmerzen chronifiziert sind, wird es deutlich komplexer, wieder aus dieser Wahrnehmung heraus zu kommen. Zum Glück ist auch das möglich. Auch hier hat uns die Hirnforschung entscheidende neue Sichtweisen geliefert. Dazu braucht es dann ein Konzept mit interdisziplinärer Betreuung. In meiner Praxis arbeiten wir deswegen eng mit Psychotraumatologen, Zahnärzten, Internisten, HNO-Ärzten, etc. zusammen.
Manchmal geht der Schmerz gar nicht mehr weg und die Beschwerden bleiben bestehen und beeinträchtigen unser Leben nachhaltig. Warum häuft sich dieser mittlerweile als eigenes Krankheitsbild anerkannte “Chronischer Schmerz”?
Aus meiner Erfahrung liegt das im Zusammenspiel aus den Erlebniswelten der Menschen in ihrem jeweiligen Umfeld. Wir tun viele Dinge (oder müssen sie tun), von denen wir glauben, dass sie gut für uns sind. Leider ist dabei oft zu viel Verstandeswissen im Spiel. Irgendwelche Fachleute aus den verschiedensten Fachrichtungen wissen immer, was das Beste zum momentanen Zeitpunkt für uns ist. Das Fühlwissen aber, also wenn ich mich persönlich gut fühle und dies auch wahrnehme, tritt dabei in den Hintergrund.
Momentan aber kommt einer neuer Trend im Büchermarkt. Zum Beispiel. „Ich fühle also bin ich“ von Damasio (versus „Ich denke also bin ich“ von Descartes). Oder: „Wie der Bauch dem Kopf beim Denken hilft“ von Baas Kast. Das lässt hoffen, dass wir mehr Dinge tun, die uns wirklich gut tun!
Ebenfalls wichtig sind auch die Dinge, die wir nicht tun. In unserer westlichen Kultur liegt der Schwerpunkt immer noch auf einem Stärken unseres Körpers und auf Fitness. Was nicht so wichtig scheint ist die Beweglichkeit. Aus meiner langjährigen Erfahrung mit Patienten, Sportlern und Nicht-Sportlern, zeigen sich immer wieder erstaunliche Defizite in der maximalen Beweglichkeit der Körper.
Unser Gehirn reagiert bei Fehlbelastungen durch zu starke Ruhespannung in den Muskeln und daraus resultierendem Druck in den Gelenken, auf den Blutgefäßen und Nerven mit Schmerzen, Kraftverlust oder Angst (vor der Bewegung als Schutz vor Zerstörung der Strukturen). Also wäre einer der entscheidenden Hebel, um chronische Schmerzen zu vermeiden oder zu behandeln, ein Wiederherstellen der kindlichen Bewegungsfähigkeit durch Absenken des zu hohen Ruhetonus der Skelettmuskulatur. Kinder können sich wunderbar schmerzfrei, lange und mit viel Power bewegen, vorausgesetzt, wir Erwachsene lassen sie das tun!
Ein weiterer Aspekt, der immer mehr in den Fokus der Forschung rückt, ist die Ernährung als Grundlage des Stoffwechsels und der Regulationsfähigkeit unseres Organismus. Nach allem, was wir heute wissen, gehören die Kohlenhydrate zu den Nahrungsmitteln, die im Übermaß mehr schaden als nützen. Als ich selbst noch in verschieden Sportarten an nationalen und internationalen Wettkämpfen teilgenommen habe, mussten wir so viele Kohlenhydrate wie möglich essen. Nach meinem heutigen Wissen würde ich das nicht mehr tun.
Im Hypothalamus, unserem Stressdirektor im Gehirn, sind verschiedene Stoffe miteinander verschaltet. Unter anderem Insulin und Serotonin. Gerät dieses Gleichgewicht durch ständige Überschwemmung unseres Organismus mit Kohlenhydraten aus dem Gleichgewicht, werden auch Stoffe für die Schmerzvermittlung verändert (Neuropeptid Y). Ein weiterer Hebel um chronischen Schmerzen zu vermeiden oder zu behandeln, ist also eine kohlenhydratarme Ernährung.
Wieso fühlen wir Schmerzen?
Wir fühlen den Schmerz an bestimmten Stellen in unserem Körper. Oft aber liegt die eigentliche Schmerzentstehung ganz woanders. Wie also entsteht der Schmerz in uns?
Schmerzen sind ein Gefühl, so wie Hunger oder Angst. Diese Gefühle entstehen durch ein Zusammenspiel aus unseren Erfahrungen, unserem Kulturkreis und unserer Ernährung. Was wir verstehen müssen, ist, dass Schmerzen ein Warnsignal vor Zerstörung sind. Gleich einer Öllampe in einem Auto, wenn der Ölstand einen kritischen Punkt erreicht hat (sie leuchtet erst sehr spät auf!).
Wenn ich dieses deutliche Signal nicht verstehe, werde ich versuchen, die Öllampe zuzukleben, herauszudrehen oder gar zu zerstören. Dann kann ich natürlich erst einmal beruhigt weiterfahren, da das Signal weg ist. Der Schaden, der dann entsteht, wenn der Motor kaputt geht, ist aber um ein vielfaches größer.
In etwa so erscheinen heute die vielen Berichte unserer Patientinnen und Patienten über die unterschiedlichsten Behandlungen am Ort eines Schmerzgeschehens: wie das Attackieren der Öllampe, deren Warnsignal endlich verschwinden soll, mit verschiedenen Mitteln.
Aus der heutigen Sicht entstehen viele Schmerzen durch einen viel zu hohen Ruhetonus in der Skelettmuskulatur und sich weiterführend in die Muskulatur der inneren Organe. Da unser Gehirn keine Muskeln steuert, sondern nur Bewegungsabläufe, kann es uns nur durch Schmerzen, Schwäche oder Angst schützen.
Wenn also ein Mensch eine bestimmte Bewegung durchführen möchte, zum Beispiel den Arm nach seitlich oben heben, kennt sein Gehirn nur diese Bewegung, aber keinen einzigen der vielen Muskeln, die an dieser Bewegung beteiligt sind. Weder die Muskeln, die die Bewegung machen (Agonisten) noch die, die loslassen müssen (Antagonisten), damit diese Bewegung möglich wird. Wenn dann zum Beispiel der Muskel innen auf dem Schulterblatt (M. subscapularis) oder der Latssimus dorsi eine zu hohe Ruhespannung aufweist, wird es bei dieser Bewegung oben auf der Schulter zu Schmerzen kommen.
Sie können sich einmal das T-Shirt an der Beckenseite unten festhalten und versuchen Ihren Arm seitlich zu heben, um zu spüren, wo Sie den Zug des Stoffes spüren. Wenn wir die Anatomie so weit betrachten, ergibt sich ein anderes Behandlungsgebiet als nur an der Stelle, wo wir den Schmerz spüren.
Die Fragen stellte: Annette Coumont