Zu unserem Artikel “Stille in der Stadt” wurde evidero-Autorin Sabrina Gundert inspiriert von der Buchautorin Ursula Richard und ihrem Buch dazu. Wie sie auf die Idee kam, nach Stille in der Stadt zu suchen und was es ihr gebracht hat, erfahrt ihr bei uns im Interview.
Wie sind Sie auf die Idee gekommen, die Stille in der Stadt zu erforschen?
Zum einen lebe ich sehr gerne in der Großstadt und reise auch sehr gern in Städte, zum anderen habe ich gleichzeitig eine große Sehnsucht nach Stille. So lag es für mich nahe, mal näher zu untersuchen, inwieweit sich beides vereinbaren lässt, inwieweit Stille auch in der Stadt erlebbar ist. Und dazu ist es wichtig, eine Vorstellung darüber zu entwickeln, was Stille eigentlich ist. Ist sie die Abwesenheit von Geräuschen oder mehr? Sind Geräusche und Stille vielleicht letztlich gar keine Gegensätze?
Ist Stille etwas, was uns Stadtbewohnern fehlt? Erleben Sie auch bei anderen Menschen ein Bedürfnis nach dieser Stille?
Ich glaube, dass sehr viele Menschen heute ein Bedürfnis nach Stille haben, da wir im Alltagsleben, oft unfreiwillig, Geräuschkulissen ausgesetzt sind, von Musik berieselt werden in den Supermärkten oder Restaurants, dem Straßenlärm ausgesetzt sind und so weiter. Aber so sehr wir uns auch nach Stille sehnen mögen, so macht sie dann vielfach auch Angst, wenn sie tatsächlich möglich wäre.
Ich war zweimal in meinem Leben in der Wüste, jeweils in einer Gruppe. Alle sprachen vorher davon, wie sehr sie sich nach Stille und Ruhe sehnten, und dann wurde doch fast pausenlos geredet, manchmal auch darüber, wie toll Stille ist.
Was ist es denn, was uns die Stille gibt?
Stille gibt Raum, gibt uns die Möglichkeit, auch innerlich still zu werden, und dem zu lauschen, was die Dinge uns sagen wollen, wenn wir zuhören, wenn wir uns mit unserem permanenten Geplapper, unserer Selbstbespiegelung und unserem Hang zum kommentierenden Urteilen mal mehr in den Hintergrund stellen und einfach das hervortreten lassen, was da ist und sich zeigen will.
Hat die Arbeit an Ihrem Buch „Stille in der Stadt“ Ihre Sicht von der Stadt verändert?
Ich habe mich bei meiner Arbeit ganz anders auf die Stadt eingelassen und auch auf die Menschen. Als ich realisierte, dass Stille und Lärm im tiefsten Sinne keine Gegensätze sind und ich Stille erfahre, wenn ich meine Urteile und inneren Kommentare, auch darüber, was mich jetzt schon wieder stören könnte, immer wieder loslasse, haben sich für mich viele Begegnungen mit mir vollkommen fremden Menschen ergeben, sei es durch einen Blickkontakt oder durch ein paar Worte oder eine stützende Hand oder was auch immer. Es gab für mich aber auch ein neues Erleben der Schönheit der Stadt.
Haben Sie bei Ihrer Stadt-Reise Stille an Orten entdeckt, wo Sie sie nie erwartet hätten?
Ja, der berühmte Komponist John Cage hat mal geschrieben, dass Stille kein akustisches Phänomen ist, sondern ein Bewusstseins-Zustand, und wenn man sie so versteht, ist sie überall erlebbar, auch in der U-Bahn oder am Hauptbahnhof. Damit das möglich ist, muss man aber, so meine Erfahrung, schon ein gewisses Maß an Entspanntheit haben, nach einem stressigen Tag, brauche ich auch äußere Ruhe, um innere erfahren zu können.
Am Ende Ihres Buches entwickeln Sie eine Vision von einer Stadt der Zukunft – mit U-Bahndurchsagen, die zum Innehalten einladen oder offenen Räumen der Stille überall in der Stadt. Was denken Sie, kann solch eine Vision in den kommenden Jahren Wirklichkeit werden?
Ich würde mir wirklich sehr wünschen, dass sich zunehmend Menschen finden, die Lust haben, offene Räume der Stille oder auch Begegnung zu schaffen, denn ich glaube, dass die uns wirklich fehlen. Ich gehe auch davon aus, dass sich mehr und mehr auch so etwas wie urbane spirituelle Orte bilden werden jenseits der traditionellen religiösen Richtungen, aber vielleicht deren Räume nutzend – immer mehr Kirchen müssen ja heute mangels Nachfrage ganz schließen.
Orte der Stille, in welcher Ausgestaltung auch immer, sind meines Erachtens sehr wichtig, damit unsere Städte lebenswerte Orte bleiben. Und es entwickelt sich ja heute auch vielerorts so etwas wie eine Kultur der Achtsamkeit und auch zu dieser Kultur gehören solche Orte.