Tatjana Schnell stellt sich täglich die Frage nach dem Sinn im Leben. Denn der Forschungsschwerpunkt der Innsbrucker Psychologie-Professorin ist die empirische Sinnforschung. Und das schon seit über zehn Jahren.
Menschen fragen sich seit Jahrtausenden, was der Sinn des Lebens ist. Und lange Zeit hat man auch geglaubt, dass es DEN einen Sinn gibt. Oft hat man ihn in der Religion gefunden. Heute aber spielt die Kirche in Deutschland keine so große Rolle mehr — und dennoch gibt es offenbar keine existentielle Sinnkrise. Das hat mich neugierig gemacht. Ich habe mich – und viele andere – gefragt, was uns stattdessen heute trägt: Worauf gründen Menschen ihre Entscheidungen, ihr Handeln und Erleben?Die empirische Sinnforschung hat inzwischen verschiedenste Zugangsweisen zu diesen Fragen entwickelt. Anhand von Interviews, Focusgruppen, Fallanalysen und Fragebögen konnten wir ganz verschiedene Sinnquellen ausmachen. Ich untersuche also nicht DEN Sinn des Lebens, sondern welchen Sinn Menschen in ihrem persönlichen Leben finden.
Der Sinn des Lebens: Wie sinnvoll ist mein Leben?
Das Problem bei der Sinnsuche ist oft, dass man Sinn nicht unbedingt spürt. Selbst jemand, der ein wirklich sinnerfülltes Leben führt, hat nicht ständig das Gefühl: „Mensch, ist mein Leben sinnvoll“. Man fühlt sich auch nicht permanent glücklich. Lebenssinn hat vielmehr etwas damit zu tun, ob wir richtig leben. Und dieses „richtig” ist stark individuell geprägt.
Richtig leben hat viel mit aktivem Handeln zu tun. Sinn ist nicht nur etwas, das ich denken oder vielleicht fühlen kann, sondern Sinn entsteht, wenn ich etwas tue. Und das sollte nicht unbedingt nur mir selbst dienen. Sinn steigt, wenn mein Handeln auch für andere Konsequenzen hat. Dabei gibt es aber Bedingungen, die erfüllt sein sollten, damit ich Sinn erleben kann
Vier Bedingungen für das Erleben von Sinn im Leben
1. Ziele müssen den eigenen Werten entsprechen, um Sinn zu schaffen
Meine Handlungen sollten zu Zielen führen, die ich selbst richtig finde. Die also nicht nur vom Arbeitgeber vorgegeben, von den Eltern übernommen oder von den Medien eingeflüstert sind. Somit entsteht so etwas wie innere Kohärenz (=Sinn-Zusammenhang). Es gibt aber auch noch die äußere Kohärenz. Und diese ist heute besonders schwer zu erreichen. Wir alle sind in verschiedene Systeme eingebunden, z.B. Arbeit, Freunde, Familie, Freizeit, Konsum, etc. In diesen herrschen oft unterschiedliche Normen und Werte. Für uns ist es dann schwierig, unsere Identität zu wahren, also in all diesen Bereichen unsere Überzeugungen zu vertreten und auszuleben. Sinnerleben hängt aber davon ab, dass wir unser Handeln in verschiedenen Kontexten als ‚stimmig‘ erleben. Es geht also darum, sich treu zu bleiben — was auch einmal heißen kann, nein sagen, sich bestimmten Praktiken zu verweigern oder für das offen einzutreten, was man für richtig hält.
2. Für den Sinn des Lebens braucht man Bedeutung
Sinn ist dann erlebbar, wenn mein Handeln nicht irrelevant ist, sondern eine Bedeutung hat und zu Konsequenzen führt. Wir brauchen also Umgebungen, in denen es möglich ist, effektiv zu handeln. In manchen Berufen ist das schwierig. Ich fühle mich als ein ganz kleines Rädchen, das nicht wirklich wichtig ist. Hier hilft es, wenn ich Einblick in die größeren Zusammenhänge bekomme: Was bedeutet mein Zutun eigentlich?
Wer profitiert davon? Viele Menschen suchen sich auch andere Wirkungsbereiche, in denen die Bedeutung ihres Handelns noch deutlicher wird, nämlich in ehrenamtlichen Tätigkeiten. Hier wird man gebraucht, hat eine konkrete Verantwortung und kennt die Ziele. Für die meisten Ehrenamtlichen ist das eine ganz starke Sinnquelle!
3. Orientierung im Leben hilft, es sinnvoll zu finden
Es ist gut zu wissen, wohin man im Leben will — und wohin nicht! Ich brauche eine grobe Ausrichtung. Wenn ich die habe, kann ich in einzelnen Situationen viel besser Entscheidungen treffen und mich auch gegen Dinge entscheiden, die mich von meinem Weg abbringen. Eine solche Orientierung — sei es Spiritualität, Kreativität, Naturverbundenheit, soziales Engagement, persönliche Entwicklung usw. — dient also wie ein Kompass.
4. Zugehörigkeit zu einer Gruppe schafft Sinn
Sinn entsteht, wenn ich das Gefühl habe, Teil von einem größeren Ganzen zu sein. Das können ein Freundeskreis, eine Familie, eine Berufsgruppe oder auch Menschen mit gleichen Überzeugungen sein. Menschen sind soziale Wesen. Deshalb tut es uns nicht gut, allein, als Einzelkämpfer unterwegs zu sein.
Anderen helfen schenkt Sinn im Leben
In meiner Arbeitsgruppe haben wir tausende von Fragebögen ausgewertet und sind dabei immer wieder auf eine Sinnquelle gestoßen, die offenbar besonders ‚sinnstiftend‘ ist, die ”Selbsttranszendenz“: Sie steht für die Bereitschaft, von sich selbst und den eigenen Bedürfnissen auch einmal abzusehen. Ein ständiges Kreisen darum, wie ich es mir selbst noch besser gehen lassen könnte, steht Glück und Sinn nämlich entgegen.
Stattdessen ist es sinnvoller, sich für Dinge einzusetzen, von denen auch andere profitieren. Das hat sich sogar bei Arbeitslosen gezeigt, die ehrenamtlich tätig waren. Obwohl sie selbst in einer schwierigen Situation waren, in der sie ihre eigenen Bedürfnisse kaum erfüllen konnten, haben sie ihr Leben als wesentlich sinnvoller wahrgenommen als Arbeitslose, die nicht ehrenamtlich engagiert waren. Allerdings ist es dabei wichtig, eine Balance zu halten: Eine Selbstaufgabe im Engagement für andere ist nicht das Ziel.
Glück vs. Sinn: Glücklich und sinnerfüllt ist nicht dasselbe
Unter Glück versteht man im Allgemeinen, viele positive und möglichst wenige negative Gefühle zu erleben. Lebe ich aber sinnerfüllt, steht das Wohlbefinden nicht an erster Stelle. Vielmehr geht es darum, das für mich Richtige zu tun. Das fühlt sich kurzfristig nicht immer nur gut an: Natürlich ist es viel anstrengender, für die eigenen Überzeugungen einzutreten oder ein Ziel zu verfolgen, als das zu tun, was im Moment das Einfachste und Angenehmste wäre. Im Nachhinein fühlt es sich jedoch tatsächlich umso besser an, wenn man das Sinnvolle vor das Angenehme stellt. Dies hat sich gerade in einer unserer Studien gezeigt: Menschen, die eher sinnorientiert leben, machen in ihrem Alltag viel angenehmere Erfahrungen als jene, denen es vor allem ums Wohlfühlen geht.
Wir erklären es so, dass ich in einem sinnerfüllten Leben mehr persönliche Stärken und verlässliche Beziehungen entwickle. Auf diese Ressourcen kann ich dann immer wieder zurückgreifen. Wenn mein Ziel aber vor allem das gute Gefühl ist, so hat dies meist keine positiven Folgen: Beziehungen bleiben oberflächlich, Handlungen beliebig. Ein gutes Beispiel ist das Fernsehen. Viele haben das Gefühl, dass es momentan gut tut, entspannt, nach einem anstrengenden Tag genau das richtige ist.
Der Sinn des Lebens – Ein Gefühl der Lebendigkeit
Bei Befragungen hat sich herausgestellt, dass Fernsehen meist als sinnlos erlebt wird, und man sich eigentlich auch nicht besonders glücklich dabei fühlt. Auch, wenn es auf den ersten Blick anstrengend erscheint, am Abend öfters einmal den Fernseher ausgeschaltet zu lassen: Ein längeres Gespräch, gemeinsames Kochen und Essen, Zeit zu zweit, ein Konzertbesuch, ein gutes Buch… sind alles viel intensivere Erfahrungen. Sie geben uns das Gefühl, lebendig und beteiligt zu sein — was unabdinglich ist für ein sinnvolles Leben.
Aufgezeichnet von Tanja Korsten