Seit einigen Jahren hat Urban Gardening ein neues Gesicht durch Selbsternte Projekte. Sie versprechen frisches Bio-Gemüse für wenig Geld und wenig Arbeit. Doch hält die Realität das Versprechen? evidero macht den Selbsttest und geht ein Jahr lang “ackern”. Hier der Beginn unserer Reihe “evidero im gartenglück”.
Es ist Sonntag und der Kühlschrank leer. “Bring noch Möhren mit!”, schallt es aus dem Wohnzimmer. Mit einer großen Tasche bewaffnet geht’s raus, vorbei an heruntergelassenen Gittern und geschlossenen Ladentüren, hin zur Haltestelle. Der Weg endet nach einer kurzen Bahnfahrt auf einem blumenumwachsenen Acker. Ein kurzer Blick: kein Bauer weit und breit. Auf dem Feld sind viele Gemüse schon erntereif: Salat, Kohlrabi, Radieschen und auch die Mohrrüben sind groß genug für Topf und Teller. Schnell ist das Abendessen aus der Erde gezogen und eingepackt; nach wenigen Minuten geht es wieder zurück nach Hause.
Was nach Diebstahl, Mundraub oder dem rheinischen “Fringsen” klingt, wird auf immer mehr Feldern in und um unsere Städte zur legalen Normalität: das Selbsternten. Ein Bauer bestellt sein Feld und seine Kunden dürfen es für einen festgelegten Betrag leer ernten. Die 1987 entwickelte Idee vom Wiener Rudolf Hascha verbreitet sich nicht nur unter naturliebenden Großstadteltern, die ihren Sprösslingen durch den eigenen Acker zeigen können, wo Herr Salat und Frau Möhre eigentlich leben. Auch auf dem Land und in Single- oder Pärchenhaushalten ist diese günstige und ökologische Form der Nahrungsbeschaffung eingezogen. Tendenz: stark steigend!
Mischkultur macht’s möglich
Kunterbunt sehen die Felder aus: Statt einer langweiligen, unökologischen Monokultur reihen sich hier Kartoffeln neben Tomaten und Ringelblumen. Noch vor kurzem als ökonomischer Wahnsinn belächelt ist die Mischkultur die Grundlage des Selbsterntens geworden: Die unterschiedlich bepflanzten Reihen werden in verbrauchergerechte Parzellen unterteilt. So können sich die Teilzeitgärtner von Anfang des Sommers bis in den späten Herbst hinein mit eigenem Gemüse versorgen.
Die anstrengenden Arbeiten des Gärtnerns, etwa das Umgraben zu Beginn und am Ende einer Gartensaison übernimmt hierbei der Bauer, genauso wie die fachgerechte Auswahl der Pflanzen. Denn dass Bohne nicht gleich Bohne ist und auch nicht jede Kartoffel in jedem Boden wächst, lernt ein Gartennovize normalerweise schmerzhaft im ersten Jahr – durch sein Scheitern. Bei den Selbsternteprojekten hingegen gelingt die Ernte meist – der Frust ist daher minimal, die Zahl der Wiederholungstäter dagegen maximal.
Unaufdringliches Gruppenerlebnis
“In zwei Tagen geht’s los – machst Du dieses Jahr auch mit?” Verschwörerische Mails werden Anfang des Jahres von ehemaligen Mitgliedern hin und her geschickt. Man schmiedet Pläne: “Wer ist diesmal dabei?” “Kochen wir dieses Jahr wieder gemeinsam ein?” “Wann treffen wir uns zu Kaffee und Obstkuchen?” Wer will findet schnell Anschluss auf dem Acker – und auch im Internet. Die meisten Selbsternteprojekte bieten ihren Kunden nicht nur auf ihren Webseiten Informationen, auch auf Facebook gibt es immer mehr Gruppen zum Austausch von gärtnerischen Erfolgen und Tipps.
Doch auch die Bauern stehen mit Rat und Tat das ganze Gartenjahr zur Seite: Von der Anzucht eigener Pflanzen, über das richtige Düngen und den Kampf gegen Schädlinge, bis hin zum richtigen Wässern wird alles fachkundig erklärt. Die meisten Landwirte stellen sogar die passenden Gerätschaften wie Gießkannen, Spaten und Rechen in einem Geräteschuppen bereit. So kann die erste Ernte auch ohne große Investitionen für Bücher und Gartenwerkzeug klappen.
Unschlagbar günstiges Bio-Gemüse
“Zu teuer – das kann sich doch täglich kaum jemand leisten!”, ist wohl das meistgenannte Argument beim Thema Bioessen. Selbsternteprojekte beweisen das Gegenteil. Je nach Bauer und Region liegen die Preise für ein Jahr Selbsternte bei maximal 160 Euro für eine Singleparzelle und 300 Euro für eine Familie. Dafür erhält jeder genug Salat, Obst und Gemüse, um damit 6 Monate, bei guter Lagerung oder Konservierung auch gerne 8 Monate, leben zu können. Obst und Gemüse aus dem Bio-Supermarkt kosten da ganz leicht das fünffache. Biolebensmittel selbstgeerntet sollten damit auch für Harz IV-Empfänger bezahlbar sein.
Bewegung an der frischen Luft, direkter Kontakt zum Essen und die Gewissheit, woher die Möhre denn nun stammt und wie sie gewachsen ist, so kann Gärtnern auch für Hochhausbewohner im Jahr 2012 funktionieren – selbst an einem Sonntag.