Um zu wissen, wie man Gefühl und Verstand gleichzeitig einsetzt, bedarf es des Bewusstseins darüber, was wir überhaupt fühlen und denken. Wer seine Gefühle und Gedanken nicht bewusst wahrnimmt, der hat meist keinen Zugang zu seinem eigentlichen Selbst und kann das Potenzial seiner Intuition nicht für das Gelingen seines Lebens nutzen. Viele Menschen erkranken sogar, weil sie die bewusste Kontrolle über ihre Gedanken und Gefühle verloren haben – so z.B. im Falle von Depressionen oder Angststörungen.
Dr. med. Malte Thormählen ist niedergelassener ärztlicher Psychotherapeut in Bonn mit dem Schwerpunkt Achtsamkeit. Er ist ausgebildet als Psychiater sowie als MBCT– und Achtsamkeitslehrer. Seine langjährige eigene Erfahrung mit Achtsamkeit und Meditation bringt er in die Therapie seiner Patienten mit ein. Wir sprechen mit dem „Achtsamkeitsarzt“ Dr. med. Malte Thormählen über Achtsamkeit als ganzheitliche Heilmethode.
Das Interview führt Annette Coumont
Lieber Dr. Thormählen, hat Ihr Gefühl oder Ihr Verstand Sie dazu bewogen, zum “Achtsamkeitsarzt” zu werden?
Über die Achtsamkeitspraxis bin ich mit einem tief in mir liegenden Gespür in Verbindung, wo es im Leben für mich langgehen soll. Dieses Gespür ist meist etwas, das sich erst nach und nach entwickelt. Manchmal ist es aber auch ganz plötzlich einfach da und es steht mir klar vor Augen, wie es weitergehen soll. Es ist also ein Gefühl, man könnte es vielleicht schon Intuition nennen.
Achtsamkeit hilft mir aber als Haltung auch ganz konkret im Alltag. Wie fast alle berufstätigen Menschen bin ich dauernd mit etwas im Kopf beschäftigt, was in der Zukunft liegt: ich muss alles durchplanen, bin in einem engen Zeitkorsett und arbeite meine tägliche To-Do-Liste ab. Es fehlt mir dann die Präsenz für alles, was (ungeplant) gegenwärtig passiert.
Aber das wahrzunehmen, was gerade ist, ist sehr wichtig im Kontakt mit anderen Menschen. Als Psychotherapeut möchte ich stets präsent sein und offen für das, was meine Patienten gerade bewegt. Dafür brauche ich vor allem achtsames Mitgefühl.
Meine langjährige Erfahrung mit der Achtsamkeit hat mich dazu bewogen, meine Arbeit als ärztlicher Psychotherapeut mit der Achtsamkeit zu verbinden und Achtsamkeitsarzt zu werden. Es war also eine Entwicklung, die sowohl mit Gefühl als auch mit Verstand vonstatten gegangen ist.
So wirken Achtsamkeit und Meditation
Können Sie uns kurz erklären, was Achtsamkeit ist?
Achtsamkeit ist eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit, die absichtsvoll ist, sich auf den gegenwärtigen Moment bezieht und nicht wertend ist. Ich folge hier der Definition der Achtsamkeit nach Jon Kabat-Zinn, der einen großen Anteil daran hat, dass Achtsamkeit in der westlichen Medizin angekommen ist.
Sie meditieren selbst seit vielen Jahren. Welche Erfahrungen machen Sie durch regelmäßige Meditation?
Mein Geist wird zunehmend ruhiger, das erfreut mich. Ich habe durch die tägliche Meditation und Achtsamkeitspraxis gelernt, mich insgesamt weniger anzustrengen. Für die meisten Dinge muss ich viel weniger Energie aufwenden und ich kann bessere, klügere Entscheidungen treffen. Wenn ich ehrlich bin, ist Achtsamkeit für mich so wichtig, weil es mir hilft, gut für mich zu sorgen.
Jeder Therapeut wird auch mit Problemen und Angstthemen durch seine Patienten konfrontiert. Es ist wichtig, sich einzufühlen und sich gleichzeitig zu distanzieren. Folgt ein Therapeut den menschlichen geistigen Neigungen zur Identifikation mit einem Problem, kann dies zur Belastung für ihn selbst werden.
Gleichzeitig kann er so auch seinen Patienten nicht mehr helfen. Ich kann daher jedem Psychotherapeuten raten, sich im eigenen Sinne mit der Achtsamkeit für die eigenen Psychohygiene zu beschäftigen.
Was passiert während der Meditation im Gehirn?
Es gibt derzeit eine riesige Menge an Forschungsarbeiten – alleine im Jahr 2016 gab es über 600 wissenschaftliche Publikationen in Fachzeitschriften zu dem Thema. Es scheint so, dass durch die Achtsamkeitsmeditation bestimmte Netzwerke im Gehirn aktiviert werden, die auch in Stresssitutationen verfügbar sind.
So kann uns Achtsamkeit helfen, die Kontrolle über depressive Gedanken, süchtiges Verhalten oder etwa den Umgang mit chronischen Schmerzen zurück zu gewinnen. Über neue Formate in der Psychotherapie kann ich diese Netzwerke über Achtsamkeitstraining konkret ansprechen. Nicht mehr auf jeden Impuls zu reagieren, ist schon ein großer Fortschritt in jeder Therapie.
Emotionen und Intuition sind wichtig für Entscheidungen
Welche Bedeutung spielen Gefühle und Gedanken im Rahmen der Achtsamkeit?
Ich würde anstelle von Gefühlen, lieber von Emotionen und Empfindungen sprechen. Das Wort Gefühl ist medizinisch nicht sauber definiert, es ist meist ein Gemengelage aus Körperempfindungen, Emotionen und Gedanken damit gemeint.
Deshalb ist einer der ersten und wichtigsten Schritte bei der Therapie MBCT (Mindfulness-based Cognitive Therapie) für an Depressionen leidenden Menschen, diese drei zu unterscheiden und für ihr Neben- und Miteinander ein achtsames Bewusstsein zu entwickeln.
Unser Verstand klebt förmlich am konzeptionellen, analytischen und bewertenden Denken. Wir verfallen immer wieder in dieselben gewohnheitsmäßigen Denkschleifen und -muster. Diese Muster unseres Geistes mit Achtsamkeit zu erkennen und uns wieder auf unsere innere Weisheit zu besinnen, öffnet unser Herz und bringt uns wieder mit dem Leben, den Menschen und der Welt in Verbindung. Mit angeleiteten Achtsamkeitsübungen versuche ich dies, für meine Patienten und Kursteilnehmer immer wieder erfahrbar zu machen.
Minute 1 – Nehme alle Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen bewusst wahr!
Minute 2 – Beobachte den Atem und ruhe im gegenwärtigen Augenblick!
Minute 3 – Nehme deinen Körper als Ganzes wahr!
Stelle dir deinenTimer auf drei Minuten. Es kommt nicht genau darauf an, die Minutenzeit genau einzuhalten, sondern dass dein Geist einen Anker findet.
Welche Rolle spielt die Intuition für unsere täglichen und wichtigsten Lebensentscheidungen?
Wenn wir Intuition als unmittelbares Wissen davon, was für mich im gegenwärtigen Moment passend ist, und was mit meinen Werten und Gefühlen in Einklang steht, definieren, ist es sicher ganz entscheidend für ein glückliches Leben.
Der Achtsamkeitslehrer Ajahn Brahm verwendet einen Münztrick bei wichtigen Entscheidungen. Man lege dabei exakt fest, welche Seite der Münze (Kopf oder Zahl) für welche konkrete Entscheidung (z.B. Heiraten oder nicht) steht und werfe sie. Soweit ist der Trick bekannt.
Dann aber achte man sehr genau auf seine Reaktion, je nachdem welche Seite der Münze nach oben zeigt. Zieht sich in uns alles zusammen? Oder fühlt sich die Entscheidung durch die Münze einfach richtig und gut an? Gibt es gar einen Freudentanz?
Die innere Rückmeldung auf die Münzentscheidung entsteht intuitiv, wir müssen sie nur wirklich wahrnehmen. Bekommen wir eine positive Rückmeldung (z.B. bei heirate sie/ihn), dann ist es meist die richtige Entscheidung und wir wissen genau, wo es langgeht. Ist die Rückmeldung negativ, dann sollten wir es mit der Heirat vielleicht doch lieber sein lassen.
Verlassen wir uns auf unsere Intuition – also auf das, was wir im gegenwärtigen Moment wirklich brauchen – dann sind wir im Spüren und Vertrauen unserer inneren Stimme, anstatt unserem ständig planenden Verstand. Das gilt für die kleinen wie die großen Entscheidungen im Leben.
So kann Achtsamkeit uns gesund machen – an Körper und Geist
Als Arzt und Psychotherapeut heilen Sie Menschen – Wann ist der Mensch heil?
Das ist eine wichtige Frage. Dazu gehören weitere: Ist Gesundheit bloß das Fehlen von Krankheit, wie es unser Gesundheitssystem suggeriert? Gehört zu Gesundheit auch Glück und wann sind wir glücklich? Können wir vielleicht auch mit Krankheiten glücklich und damit heil sein?
Es ist immens wichtig für unser eigenes Heil, unangenehme Zustände wie etwa Trauer, Sorgen oder Schmerzen als Teil unseres menschlichen Daseins anzuerkennen. Eine Haltung zum Leben, die dies einschließt, hat für mich etwas mit “Heil Sein” zu tun.
Um den Sufi-Dichter Rumi aus dem 13. Jahrhundert zu zitieren: „Jenseits von Richtig und Falsch liegt ein Ort, dort treffen wir uns.“
Häufig krankt unser körperlicher und geistiger Zustand wortwörtlich daran, die unvermeidbaren Tiefen des Lebens in “jenseits von Richtig und Falsch” wirklich anzunehmen. Unsere Auffassung von Gesundheit dagegen vermittelt uns einseitig, dass wir etwas falsch machen, wenn wir nicht glücklich oder gesund sind.
Wie heilen Sie z.B. Depressionen, Angst-, Ess- oder Schlafstörungen?
Mit Achtsamkeit kann ich bei meinen Patienten Selbstheilungskräfte in Gang setzen. Das ist ja das Faszinierende, die Menschen können sich selbst heilen.
Von einem Achtsamkeitsstandpunkt aus haben wir bereits alles in uns, um heil zu werden. In meinen Kursen kann ich daher immer etwas von den Teilnehmern lernen. Ich versuche auch Menschen, die bereits Erfahrung mit Achtsamkeit haben, gut zuzuhören. Dabei bin ich immer wieder erstaunt, wie simpel aber wirksam manch hilfreiche Anleitung ist.
In meinen Achtsamkeitskursen versuche ich also nur die richtigen Schilder aufzustellen, um den Weg zur Heilung aufzuzeigen und von weiteren Irrwegen abzulassen. Natürlich ist es nützlich, einen guten Achtsamkeitslehrer zu haben. Und am besten auch andere Leute, mit denen wir Achtsamkeit praktizieren und uns austauschen können. Das hilft immens.
Genau wie ein grundsätzlich freundlicher und mitfühlender Umgang mit uns selbst. Allein zu lernen, dass wir nicht impulsgesteuert immer wieder einer bestimmten Gewohnheit (z.B. einer Ess- oder Rauchgewohnheit) folgen müssen, oder Gedanken nur als Gedanken zu bewerten, ohne uns damit zu identifizieren (ich denke, ich fühle mich schlecht – fühl ich es deswegen auch?), ist sehr nützlich für den Selbstheilungsprozess meiner Teilnehmer.
Was sagt die Forschung dazu?
Für die sogenannten MBIs (Mindfulness based Interventions), die ich in meiner Praxis anbiete, gibt es solide wissenschaftliche Belege – das ist mir als Arzt auch sehr wichtig. MBCT (Mindfulness-based Cognitive Therapy) etwa senkt die Rückfallhäufigkeit von Depression um die Hälfte und hat damit die gleiche Wirkung wie die Antidepressiva – allerdings ohne die einschränkende Nebenwirkungen der Medikamente.
Durch das “Eat Right Now” Programm konnten die Teilnehmer ihre emotional gesteuerten Essanfälle innerhalb von vier Wochen signifikant um die Hälfte reduzieren und sogar Gewicht abnehmen.
“Craving to Quit”, ein von mir durchgeführtes Raucherentwöhnungsprogramm, führt doppelt so häufig zum Erfolg (mit dem dem Rauchen aufzuhören) wie mit dem besten bisher in den USA getesteten sonstigen Raucherentwöhnungsprogrammen.
Nach dem auf dem Achtsamkeitsansatz beruhenden Therapieansätzen blieben die Teilnehmer auch abstinent und hatten kaum Rückfälle. In einigen Studien zeigte sich sogar wissenschaftlich nachgewiesen eine Verbesserung von Schlafstörungen, weshalb die Achtsamkeitstherapie MBTI (Mindfulness based Treatment of Insomnia) entwickelt wurde.
Was macht die jahrtausend alte Weisheitslehre der Achtsamkeit für den modernen Menschen so attraktiv?
In einer Gesellschaft, in der es scheinbar für alles eine Lösung gibt, in der alles unter Kontrolle scheint, in der es erheblichen Wohlstand gibt und alles potenziell möglich ist, geraten wir immer mehr mit den tatsächlichen Unzulänglichkeiten von uns Selbst und des wirklichen Lebens aneinander.
Die Achtsamkeitslehre bietet uns eine jahrtausend alte und erprobte, aber für uns neue Möglichkeit, die Wirklichkeit zu erkennen und nicht an ihr zu leiden. Wir verstehen mit Achtsamkeit auch die Wurzel unseres Leids.
Darüber hinaus gewinnen wir mit Achtsamkeit neues Selbstvertrauen für unseren weiteren Lebensweg und die richtigen Entscheidungen in Gang zu setzen, um einen achtsamen Weg zu beschreiten. Darin kann unser wahres Glück liegen.
Vielen Dank für das Interview
– wie du deine Gefühle besser wahrnimmst
– deine Intuition stärkst
– welche Rolle dein Verstand übernimmt
– wie Gefühl und Verstand Hand in Hand gehen.