Wer Schmerzen hat geht erst einmal zum Facharzt. Dieser behandelt meist symptomatisch den Bereich des Körpers, wo der Schmerz wahrgenommen wird. Leider entsteht der Schmerz aber gar nicht unbedingt dort, wo er auftritt. Sondern multikausal, also durch viele Ursachen körperlicher und seelischer Art gemeinsam verursacht. Wer diesen Zusammenhang versteht, findet auch die richtige Therapie. Wie man chronische Schmerzen therapieren kann, erläutert uns heute Markus Rachl im zweiten Teil unseres Interviews: Dem Schmerz auf der Spur.
Schmerzen sind subjektiv stark oder schwach
Welche Faktoren spielen bei der Entstehung von Schmerzen noch eine Rolle? Es heißt ja, Gefühle, wie Ängste, Stress und Traurigkeit und auch das soziale Umfeld haben einen großen Einfluss auf das Schmerzempfinden.
Genau. Das Schmerzempfinden ist etwas Subjektives. Als individuelles Subjekt sind unsere Vorerfahrungen im Zusammenhang mit Schmerzen wichtig. Es gibt Untersuchungen, wie wir Schmerzen bewerten, wenn wir als Kinder mit Nadeln gestochen werden. Womöglich noch festgehalten von den engsten Bezugspersonen (Mutter oder Vater), die uns verbal mitteilen, „das tut nicht weh“, oder „Stell dich nicht so an“.
Was Kinder dann spüren, kann etwas ganz anderes sein. Nämlich, dass sie starke Schmerzen verspüren und ihre nächsten Beschützer diesen auch noch ausliefern. Dass es wichtige medizinische Gründe (Verstandeswissen) für einen Stich mit der Nadel geben mag, erschließt sich einem kleinen Kind in dieser Situation noch nicht. Schmerzerfahrungen und deren Bewertung hängen also eng miteinander zusammen und prägen uns oft ein Leben lang.
Um Ihnen noch ein anderes Beispiel aufzuzeigen: Als Kampfsporttrainer habe ich viele Jahre Schmerzen erlitten, bis hin zu mehreren Knochenbrüchen. Diese Schmerzen waren viel besser auszuhalten, da ich etwas tun konnte oder mich wehren konnte und durfte!
Ich ging mit den gebrochenen Knochen zum Arzt, es hat sich jemand darum bemüht und dann mehr oder weniger sinnvoll behandelt. Auf einem Zahnarztstuhl dagegen stehe ich jedes Mal unter einer immensen Anspannung, auch wenn eine Betäubungsspritze gesetzt wurde. Da in meiner Kindheit oft nicht betäubt wurde, wenn auf den Nerv gebohrt wurde, haben sich Ängste und Aggressionen gegen den Behandler aufgebaut, die ich nie ausleben durfte.
Dann gab es Sprüche, die mich als „Weichling“ klassifizierten. Der Arzt hat mein Erleben und seine Folgen für alle zukünftigen Zahnbehandlungen nicht adäquat reflektiert. Das hat dazu geführt, dass mich meine Erfahrung auch heute noch körperlich unter Anspannung setzt, wenn ich auf einen Zahnarztstuhl steige. Zum Glück kann ich meine Kampfsporterfahrungen zurückhalten, auf einer Betäubung bestehen und mir eine nette Ärztin oder einen netten Arzt selbst aussuchen. Dies konnte ich als Kind nicht, macht mich aber heute handlungsfähig.
Wenn Körper und Seele zusammenhängen, dann benötigen wir doch umfassende Heilungskonzepte. Die Spritze beim Orthopäden oder sechs mal Physiotherapie kann doch nicht ausreichen?
Manchmal reicht das erstaunlicherweise sogar aus. Oft reicht es aber auch nicht aus. Es gibt eine Studie aus der Psychologie in Kanada, wieviel Prozent der Gesundung eines Menschen von einer bestimmten Therapie abhängt, die angewendet wird. Am Ende sind es nur 15-20%. Als weitere Faktoren neben der Therapie gelten die Beziehungs- und Vertrauenssysteme (40%), die Patienten und Therapeuten aufbauen können, die Motivation zur Gesundung und das soziale Umfeld (40%) sowie die anderen Therapieverfahren, die oft gleichzeitig angewendet werden.
Wenn Orthopäde und Physiotherapie nicht ausreichen, brauchen wir vernetzte Behandlungskonzepte. Das bedeutet, wir brauchen jemanden, der sich um das akute körperliche Symptom kümmert. Wenn es nicht besser wird, braucht es Fachärzte, die Strukturen im Detail untersuchen können. Dann jemanden, der nach den psychologischen Zusammenhängen schaut.
Da wir heute wissen, dass die Bisslage einen Einfluss bis in die Fußspitzen hat, brauchen wir jemanden, der sich in der funktionellen Versorgung der Zähne und des Bisses auskennt. Ich arbeite heute mit Zahnärzten und Kieferorthopäden zusammen, die zum Beispiel die Beinlängen messen, wenn sie den Patienten Beißschienen ausmessen. Dann muss sich jemand um die Ernährungsgewohnheiten kümmern, da sie die Grundlage der Regulationsprozesse im Körper darstellen.
Auch können wir ohne richtig zu atmen nur beschränkt auf unsere Energien zurückgreifen. Also brauchen wir geschulte Therapeuten, die das Atmen mit den Menschen üben. Im Yoga wird das zum Beispiel mit dem Pranayama geübt. Diese Zusammenhänge finden wir in der traditionellen chinesischen Medizin ebenfalls schon lange.
In unserer modernen Medizin erkennen wir das erst jetzt so langsam und tun so, als ob es etwas ganz Neues wäre, dass alles – Körper, Geist, Seele, Soziales System – irgendwie im Menschen zusammenwirkt.
Therapieformen bei chronischen Schmerzen: Myoreflex und Myohydro Therapie
Können Sie uns Beispiele für gute Therapieansätze nennen? Wie können diese umgesetzt werden?
Gute Therapieansätze brauchen zunächst einmal Zeit. Ich muss mir diese nehmen, um etwas aus der Geschichte und den Gewohnheiten (Beruf, Sport, Ernährung etc.) der Patienten zu erfahren. Erst dann kann ich das Schmerzgeschehen besser einordnen und gezielter Behandeln. Das bedeutet aber auch, dass meine Ausbildung breit gestreut sein muss.
Ich nenne Ihnen ein persönliches Beispiel. Als ZIVI in einer Psychosomatischen Klinik im Schwarzwald haben wir nichts über Krankheitsbilder oder Umgang mit Patienten gelernt. Ich fand das schon damals unzumutbar für beide Seiten. In meiner Ausbildung zum Physiotherapeuten lernten wir viel über Muskeln, aber nichts über Psychologie, obwohl wir jeden Tag mit Patienten zu tun hatten. In meiner Ausbildung zum Heilpraktiker lernten wir viel innere Medizin und ich habe bei einem Ausbilder gelernt, der uns sagte: „Psychologie kann ich nicht, das müsst ihr nachlesen, wenn es euch interessiert“.
Zum Glück kam ich dann an eine Schule, wo ein guter Arzt und ein Sozialpsychologe unterrichteten, auch Psychologie. An der Uni in Köln habe ich sieben Semester in der Psychotraumatologie bei dem Begründer dieser Fachrichtung verbracht. Erst so kam es in all den Jahren zu einem tieferen Verständnis von Patienten und ihren Schmerzen.
Gute Therapieansätze brauchen in meinen Augen gute und umfassende Ausbildungskonzepte. Eines davon habe ich bei dem Begründer der Myoreflex-Therapie erlernt. Dieses Therapieverfahren vernetzt die Erkenntnisse der traditionellen Erfahrungsmedizin mit den Erkenntnissen der modernen, wissenschaftlichen Schulmedizin.
Und je mehr meiner eigenen Lebenserfahrungen ich als Therapeut einbringen kann, desto besser werde ich die Patienten mit ihren Geschichten verstehen. Das heißt, ich wurde als Therapeut besser, weil ich mich als Mensch weiterentwickelt habe und nicht weil ich noch diese Therapie und jene Therapie neu dazugelernt habe.
In meinen Augen kommt es auf dieses Zusammenspiel von Ausbildungskonzept und Lebenserfahrung an.
Sie behandeln in Ihrer Praxis konkret mit Myoreflex- und Myohydro-Therapie und sogar mit Delphingestützter Therapie. Können Sie uns diese Therapieansätze kurz darstellen?
Zuerst habe ich viele Jahre in der Myoreflex-Therapie in Konstanz und im Schwarzwald (Gutach) gearbeitet und mit dem Begründer Praxen und Kurse aufgebaut, Bücher geschrieben und Kurse gegeben. In dieser Therapie geht es genau um die oben beschriebenen Zusammenhänge. Das bedeutet, die Patienten müssen zuerst erzählen, wo sie Schmerzen haben oder seit wann. Dann, was sie schon alles dagegen unternommen haben und mit welchen Erfolgen.
Danach werden sie auf Beweglichkeit untersucht und es werden die Ruhespannungen der gesamten Muskulatur am Körper (also nicht nur da, wo es weh tut!) abgetastet. Das Lösen der Spannung geschieht dann an den Ursprüngen und Ansätzen der Muskulatur am Knochen, welche exakt den Akupunkturpunkten entsprechen. Wir halten unseren tastenden Finger so lange auf den Muskelansatz, was von den Patienten als schmerzhaft beschrieben wird, bis sich die Spannung löst. Die Patienten beschreiben dann, dass der Schmerz verschwindet.
Wenn die Muskeln die oft viel zu hohe Ruhespannung aufgeben, beschreiben die Patienten dies oft als sehr wohltuend und dass sich diese Körperregion warm anfühlt. Wie, wenn jemand am Auto endlich mal beim Fahren die Handbremse löst. Auch unser Auto kann dann die Kraft des Motors wieder umsetzen und wir müssen nicht den Motor stärker machen.
Viele Patienten versuchen, ihre Muskeln zu stärken, was angesichts der hohen Spannung in den Muskeln oft nicht den gewünschten schmerzfreien Zustand bringt. Was wir bei unseren Behandlungen erleben, ist der Effekt der gelösten Handbremse. Die Patienten können durch das Senken der Spannung wieder mehr Kraft entwickeln und sich schmerzfrei bewegen, da die bremsenden Muskeln losgelassen haben. Sie erinnern sich vielleicht an die oben erwähnten Schutzmechanismen des Gehirns, bevor es zu einer Schädigung von Strukturen kommt. Schmerzen, Schwäche bis Lähmung und Angst.
Fazit: Die Spannung muss runter und nicht die Kraft hoch. Das heißt anders herum, wenn die Kraft hochtrainiert wird und die Spannung mit ansteigt, muss es auf lange Sicht zu Schäden kommen, die wir heute, wie von Ihnen eingangs beschrieben, bei immer mehr und immer jüngeren (auch oder gerade bei gut trainierten und kräftigen) Menschen beobachten können.
Für die Therapie müssen unsere Patienten oft auch an den so lieb gewonnen Ernährungsgewohnheiten arbeiten. Manchmal brauchen wir auch weitere Fachleute wie Ernährungswissenschaftler und Psychotherapeuten im Boot, um die Patienten aus ihren Schmerzerlebnissen zu befreien. Um den Behandlungserfolg langfristig und nachhaltig zu sichern, müssen die Patienten ein Übungskonzept lernen und durchführen.
Bei dem Training handelt es sich um eine Kombination von Dehnübungen und Krafttraining, anstatt zu dehnen oder zu kräftigen. Dies kann als eine westliche Form des Yoga beschrieben werden. Alle Studien belegen inzwischen, dass Dehnen die Struktur des Muskels nicht verändert. Der Vorteil dieses Trainingssystems liegt in der Steigerung der Kraft, verbunden mit einer Senkung der Spannung des Muskels. Außerdem wird in ganzen Muskel-Ketten und entsprechend den Meridian-Bahnen aus der TCM trainiert, was deutlich schneller geht, als alle Muskeln einzeln zu trainieren.
Mit der Myohydro-Therapie habe ich viele Erfahrungen der letzten 40 Jahre zusammengeführt. Hierbei werden die Patienten in körperwarmem Wasser bewegt. Es gibt verschiedene Möglichkeiten im Wasser: Wasser-Shiatsu, Wassertanzen, Wasseryoga, Aquabalancing – um nur einige zu nennen. Einige davon durfte ich selbst erleben. Sie fühlen sich unglaublich entspannend an.
Allerdings habe ich durch die vielen Jahre (22) mit der Myoreflextherapie erlebt, wie schwer es ist, strukturell veränderte Muskeln wieder in einen entspannten Zustand zu bekommen. Ebenso, wie wir gezielt die einzelnen Muskeln behandeln müssen, um die Spannung wirklich nachhaltig zu lösen. So kam es, dass ich seit über 10 Jahren auch im Wasser Behandlungen durchführe, auf Grundlage der Myoreflex-Therapie und der diversen Wassertechniken. Mein großer Wunsch war, durch eigene Erlebnisse im offenen Meer mit freien Delphinen, die wir nicht anfassen durften, auch den Aspekt des Glücksgefühls mit einzubeziehen.
Ich habe noch nie so viele juchzende, lachende, in den Augen strahlende Menschen erlebt, wie auf den Booten, wenn wir Delphinen begegneten. Und dieses Glück hat großen Anteil an der Heilung von Spannungen und Schmerzen.
Wann hat Schmerztherapie Erfolg?
Welche Erfolgsindikaktoren für Menschen in Ihrer Therapie sehen Sie?
Für die Patienten ist einer der wichtigsten Faktoren, ob sie sich verstanden und gut aufgehoben fühlen oder nicht. Der zweite Erfolgsindikator ist, ob sich ihre Schmerzen verbessern bzw. verschwinden, oder was wir ihnen als Alternative empfehlen können. Auch hat es sich als sehr hilfreich erwiesen, wenn die Menschen logisch nachvollziehen können, was bei ihnen im Körper geschieht.
- Der erste wichtigste Schritt als Therapeut ist das ernsthafte Zuhören, um ein tiefes Verständnis zu bekommen, was die Menschen in der aktuellen Lage bewegt und welche Erlebnisse hinter den in den Vordergrund tretenden Symptomen stecken. Oft sind es genau die Fragen, die einen auf die richtige Spur bringen und das merken die Patienten sehr genau.
- Dann sind es hoch motivierte Therapeuten, die sich im Sinne der Patienten persönlich weiterentwickeln und sich um Methoden bemühen, die zu ihnen als Behandler passen. Auch das Team muss miteinander Spaß haben und untereinander eine Kultur der Freude leben.
- Als einen weiteren wichtigen Punkt sehe ich die Logik, die wir den Patienten über anatomische Zusammenhänge in Bezug auf ihre Symptome vermitteln können. Ich hatte Lehrer, die ursprünglich aus dem Maschinenbau kamen und dann erst Medizin studierten. So kamen sehr logische Zusammenhänge in die bewegende Anatomie des Menschen.
- Als letzten Erfolgsindikator sehe ich meine eigene Weiterentwicklung, fachlich wie menschlich bei außergewöhnlichen Lehrmeistern auf den unterschiedlichsten Gebieten, nicht nur in der Medizin. Zum Beispiel auch im Apnoetauchen.
Was empfehlen Sie Menschen, die den ersten Schritt zu einer ernsthaften Schmerztherapie machen möchten?
Na ja, da wäre natürlich meine erste Frage, was ist eine ernsthafte Schmerztherapie? Patienten können sich in Internetforen informieren, wer womit und bei wem gute Erfahrungen gemacht hat. Lesen Sie Bücher zum Thema Schmerz. Und bleiben Sie auf der Suche nach einer Therapeutin oder einem Therapeuten, bei dem Sie sich gut aufgehoben und verstanden fühlen.
Wenn einem Therapien keinen Erfolg bringen, lohnt sich ein Wechsel in andere Denk- und Betrachtungsweisen, zum Beispiel von der Schulmedizin in die Naturheilkunde oder zum TCM, oder umgekehrt. In Deutschland haben wir noch das Glück, dass wir als Patienten freie Arztwahl haben. Eine andere Möglichkeit: Sie besuchen uns in meiner Praxis.
Wir danken Ihnen für das Interview!
Die Fragen stellte: Annette Coumont