Ein Blick in das öffentliche Leben erweckt den Verdacht, Schamgefühle hätten in unserer Gesellschaft längst ausgedient. Ein freizügiger Kleidungsstil, schillernde Selbstdarstellungen oder das öffentliche Mitteilen intimer Angelegenheiten sind längst alltäglich geworden. Manches schamlose Verhalten scheint sich sogar immer weiter auszudehnen und vor nichts mehr Halt zu machen. Daher sind wir erschüttert, wenn wir Gaffer erleben, die Fotos von Unfallopfern machen und offenbar jedes Feingefühl verloren haben. Es wirkt auf uns unmenschlich, befremdend und abstoßend – eben schamlos.
Wie sich Scham anfühlt
Scham betrifft uns und geht uns alle an, denn Scham ist ein existenzielles Gefühl und gehört zur Grundausstattung von uns Menschen. Wir alle kennen Situationen, in denen wir uns nackt und bloßgestellt fühlen und am liebsten im Erdboden versinken möchten. Scham ist unberechenbar und kündigt sich nicht an. Sie überkommt uns plötzlich und unerwartet, weil jemand anderes plötzlich etwas erfahren, entdeckt oder gesehen hat, was wir eigentlich bedeckt halten wollten. Etwas, von dem wir eben nicht wollen, dass andere es wissen oder sehen.
Das Gefühl, der Mittelpunkt der Welt zu sein
Wenn wir uns schämen, ist unsere Aufmerksamkeit voll und ganz auf uns selbst gerichtet. Wir fühlen uns wie gelähmt, sind unfähig zu handeln, senken den Blick und werden kreidebleich oder hochrot im Gesicht. Im Schamgefühl meinen wir, der Mittelpunkt der Welt zu sein. Es ist das Empfinden, dass alle Augen uns ansehen und jeder Blick unser Innerstes durchdringt. Im Schamerlebnis fühlen wir uns einsam und isoliert von anderen. Am liebsten möchten wir verschwinden oder uns auflösen, um nur irgendwie dieser unerträglichen Situation zu entkommen.
Wofür wir uns schämen
Es gibt unzählige Gründe und Anlässe für Scham, denn letztlich gibt es nichts, wofür ein Mensch sich nicht schämen kann. Jeder von uns schämt sich für etwas anderes, daher ist Scham ein subjektives Gefühl der Blößeempfindung. Das heißt, was mich in unendliche Schamabgründe stürzt, lässt eine andere Person möglicherweise völlig unberührt. Dies zu wissen ist deshalb wichtig, weil sich Schamgefühle niemals ausreden lassen. Das heißt:
Wir kennen zwar oftmals nicht die Gründe, für die andere sich schämen, und wir verstehen sie vielleicht auch nicht, aber das entbindet uns keineswegs der Verpflichtung, ihre Schamgrenzen zu respektieren. (vgl. Bohn 2015, S.17)
Warum empfinde ich womöglich schneller Scham?
Wie anfällig jemand für Schamgefühle ist, hat außerdem viel mit der eigenen Schambiografie zu tun. Damit meine ich Beschämungserfahrungen, die wir in unserem Leben bereits gemacht haben. In welchem Umfeld bin ich aufgewachsen? Wie oft oder durch wen wurde ich beschämt? Auf welche Weise habe ich Beschämung erfahren? Habe ich schon früh Spott und Hänseleien erfahren und wurde mir stets vermittelt, unerwünscht und überflüssig zu sein?
War mein Lebensumfeld von Liebe und Wärme geprägt oder eher kühl und ablehnend? Wurde ich als die Person angenommen und wertgeschätzt, die ich bin? Oder wurde ich vernachlässigt und musste sogar psychische oder körperliche Gewalt erfahren?
Drei Formen der Scham
Es gibt verschiedene Formen der Scham, auf die wir uns beziehen können. Vereinfacht klassifiziert handelt es sich um Körperscham, Identitätsscham und Statusscham.
Die Körperscham
Körperscham ist sehr mächtig und meistens das erste woran Menschen denken, wenn es um Schamgefühle geht. Wir schämen uns für Nacktheit, davor uns körperlich zu entblößen oder den Blick auf intime Stellen gewähren zu müssen. Zudem benötigen wir nach wie vor Rückzugsorte, wie Toiletten oder Umkleidekabinen, um unseren Intimbereich zu verbergen und zu schützen.
Viele Menschen schämen sich für ihr Aussehen, für Erscheinungen des Älterwerdens oder für körperliche Makel und Entstellungen.
Andere wiederum schämen sich für körperliche Auffälligkeiten, auch wenn es Merkmale sind, die nur sie selbst als schamrelevant empfinden. In einer Gesellschaft, in der Schlankheit, trainierte Körper und jugendliches Aussehen als Schönheitsideale gelten, ist Körperscham ein weit verbreitetes Phänomen.
Die Identitätsscham
Identitätsscham hingegen bezieht sich darauf, wie wertgeschätzt wir uns fühlen. Es geht hier in gewisser Weise um unsere Daseinsberechtigung. Es gibt Menschen, die sich chronisch schämen und sich in keiner Weise liebenswert fühlen. Ihnen wurde stets vermittelt, unerwünscht zu sein.
Für Menschen, die sich für ihr Dasein schämen, ist das Schamgefühl dauerhaft präsent und bereits zu einer unliebsamen Lebensbegleiterin geworden. Hier liegen die Ursachen in dem, was ich oben bereits beschrieben habe. Es handelt sich um Beschämungserfahrungen aufgrund von Lieblosigkeit in einem Umfeld, in dem man auf emotionale Kälte gestoßen ist oder demütigende Formen der Gewalterfahrung erleiden musste.
Die Statusscham
Von Statusscham wird gesprochen, wenn es um die eigene Zugehörigkeit zu Gruppen oder der Gesellschaft geht. Sie entsteht, wenn wir Rollen, Positionen oder Funktionen verlieren oder aufgeben und uns dadurch ausgeschlossen fühlen. Armut und Arbeitslosigkeit lösen daher häufig Statusscham aus. Aber auch in Konkurrenzsituationen oder wenn bestimmte Leistungen von uns verlangt werden und daraufhin Versagensängste aufkommen, kann der Status bedroht sein.
Letztlich sind die Anlässe, die Schamgefühle hervorrufen können, reichhaltig und verschieden.
Was Scham und Peinlichkeit unterscheidet
Sowohl Scham als auch Peinlichkeit gehören zur Familie der Schamgefühle, wie übrigens Schüchternheit und Verlegenheit auch. Trotzdem handelt es sich um ganz eigene Phänomene. Es ist wichtig, sich stets bewusst zu halten, dass Scham ein zutiefst schmerzvolles Gefühl ist, weil bei der Scham unsere Selbstachtung und unsere Würde auf dem Spiel stehen.
Denn wenn wir uns schämen, fühlen wir uns ohnmächtig und gedemütigt. Wir sind unfähig zu handeln und fühlen uns in unserem innersten Kern und Selbstwertgefühl tief getroffen. Wir sind wie erstarrt, halten den Blick gesenkt, fühlen uns gelähmt und weder Lachen noch Blickkontakt mit anderen ist möglich. Im Schamgefühl sind wir einsam.
Peinlichkeit ist weniger intensiv im Erleben
Das Schamgefühl greift auch auf die Schamzeugen über. Das zeigt sich daran, dass auch die anderen betroffen sind und schweigen. Auch sie sind handlungsunfähig und helfen uns nicht, wenn wir beispielsweise vor ihren Augen von einem Menschen beschämt werden.
Peinlichkeit hingegen ist wesentlich weniger intensiv im Erleben und daher milder. Wenn uns etwas peinlich ist, können wir trotzdem den Blickkontakt zu anderen halten. In einem Moment, in dem uns ein Malheur passiert, schauen wir uns sogar unmittelbar um, um zu überprüfen, ob auch tatsächlich jemand das peinliche Ereignis registriert hat.
Wir erröten zwar vielleicht, aber wir können immerhin noch lachen. Auch die Zeugen der peinlichen Situation können lachen und mit uns sprechen. Manche helfen uns sogar, das Malheur zu beseitigen oder bekunden, dass ihnen sowas auch schon mal passiert ist. Das heißt, in einer peinlichen Situation solidarisieren sie sich sogar mit uns.
Scham berührt unsere Selbstachtung
Ich möchte anhand dessen verdeutlichen, dass Scham erheblich belastender ist, als die weitaus mildere Peinlichkeit. Im alltäglichen Sprachgebrauch hat es sich allerdings eingebürgert, vorrangig von Scham zu sprechen, obwohl es sich in vielen Fällen „nur“ um Peinlichkeit handelt. Allerdings sind die Grenzen hier auch manchmal fließend.
Scham betrifft den innersten Kern unserer Persönlichkeit und berührt unsere Selbstachtung. Damit bezieht sie sich auf die Person. Peinlichkeit hingegen bezieht sich in erster Linie auf die jeweilige Situation.
Um es auf den Punkt zu bringen: Bei der Peinlichkeit geht es darum, was mir passiert ist. Bei der Scham hingegen geht es um mich selbst! (vgl. Bohn 2015, S.14)
Was bedeutet das nun für uns?
Scham ist unverändert in unserer Gesellschaft allgegenwärtig und präsent. Allerdings haben sich die Schamgefühle gewandelt, denn wir schämen uns heute für andere Inhalte als zu früheren Zeiten. Körperbehaarung galt beispielsweise vor Jahrzehnten als natürliche Erscheinung. Heute würden Achselhaare oder Beinbehaarung für viele ein Anlass für Scham bzw. Peinlichkeit sein.
Unsere Schamgempfindung gibt uns Schutz
Scham spricht mit uns und hat eine wichtige Funktion. Wir sollten daher der Scham ihren Wert zurückgeben, denn Scham ist ein sinnvolles Gefühl. Sie zeigt uns und unserem Gegenüber an, dass wir mehr Abstand brauchen oder auf etwas Bestimmtes nicht angesprochen werden möchten.
Ein Mensch, der sich schämt, fleht uns an, ihn zu verschonen und von ihm abzulassen. Und auch unsere eigenen Schamgefühle zeigen uns an, an welchem Punkt wir besonders verwundbar sind.
Warum wird über Schamgefühle kaum gesprochen?
Scham ist und bleibt ein Tabuthema und damit ist sie das heimlichste Gefühl in unserer Gesellschaft. Über unsere Schamgefühle sprechen wir nicht, weil dabei zu viel für uns auf dem Spiel steht. Schließlich würde uns jede unangemessene Reaktion erneut beschämen und verletzen.
Jeder von uns steht in der Verantwortung, denn wir alle können Beschämung vermeiden, indem wir uns nicht an den Beschämungsakten anderer beteiligen. Die Entrüstung über die Gaffer, die am Unfallort Fotos schießen, ist daher letztlich ein äußerst sozialer Akt. Denn in diesem Moment übernehmen wir stellvertretend das Schamgefühl, das die Gaffer in ihrer Sensationsgier nicht mehr haben.
Schamgrenzen erkennen und wahren
Abschließend sollten wir uns bewusst machen, dass Scham und Macht dicht beieinander liegen. Denn ein Mensch, der sich schämt, befindet sich immer in einer unterlegenen Situation. Wichtig für unser Zusammenleben ist vor allem, die Schamgrenzen anderer zu erkennen und zu wahren.
Dabei hilft, sich intensiv mit dem Thema Scham zu beschäftigen und vor allem einen wertschätzenden Umgang miteinander zu pflegen. Denn wo ein wertschätzendes Miteinander gelebt wird, finden Schamgefühle keinen fruchtbaren Nährboden.