Die Welt ist tatsächlich zum globalen Dorf geworden. Protestbewegungen des 21. Jahrhunderts erreichen mehr Menschen als jemals zuvor, denn im Web 2.0 hat jeder eine Stimme – sei es mit Text, Bild oder Video. Die Social Media Plattformen ermöglichen das rasend schnelle Wachsen von Interessengemeinschaften. „Online“-Bewegungen werden mehr und mehr „offline“ Wirklichkeit, also zu realen Protesten, Kampagnen, Bewegungen oder sogar Parteien. Social Media bringen eine neue Dimension in die politische Kommunikation. Meinungsbildung, Kampagnen oder sogar direkte Beteiligung an der Politik stehen zwar erst am Anfang ihrer Geschichte, zeigen aber schon heute erstaunliche Wirkung.
Der einfachste, direkte digitale Draht in die deutsche Politik ist die Onlinepetition. Seit 2005 können Petitionen an den Bundestag online eingereicht, gezeichnet oder auch in einem Forum diskutiert werden. 2010 wurden rund 25 Prozent der Petitionen online eingereicht. Der Erfolg hat die Initiatoren selbst überrascht – ausgerechnet die gute alte Petition, offen für jeden, aber bindend für niemand. Das mag ein Grund dafür sein, dass die Onlinepetition nie die Popularität von global agierenden Seiten wie Avaaz erreicht hat. Ein anderer mag sein, dass sie genau dort andockt, wo sich viele Bürger anscheinend nicht mehr wirklich vertreten fühlen, der institutionalisierten Politik.
Online-Protest auf dem Vormarsch: Avaaz – Occupy-Bewegung – Anonymous
Über drei Millionen Aktive hat Avaaz weltweit, operiert in 14 Sprachen. Avaaz – Hindi für die „Stimme“ – will eine moderne Globalisierungsbewegung sein, die Stimme für Klimaschutz, Menschenrechte, mehr Gerechtigkeit. Mitglied wird man durch das Zeichnen oder Weiterleiten von Petitionen. Und das ist extrem einfach, es braucht sprichwörtlich nur einen Klick und schon ist man Teil des großen Online-Chores. Aber wie viel Gewicht hat eine Stimme noch, wenn sie mit einem Klick zu erheben ist? Wer engagiert sich noch wirklich, wenn der politisch korrekten Bürgerpflicht genüge getan ist? Die Aktivisten der Occupy-Bewegung organisieren und kommunizieren digital. Weltweit gibt es Gleichgesinnte; 2011 solidarisierten sie sich unter anderem mit den Protestbewegungen des Arabischen Frühlings und den spanischen Demonstrationen gegen Sozialabbau. Zuletzt wurde auf vier Kontinenten in mehr als einem Dutzend Ländern demonstriert – und zwar real auf Strassen und Plätzen.
Eine Splittergruppe von „Anonymous“ stiehlt Daten, blockiert Webseiten „böser Akteure“ und verhöhnt die Sicherheitsversprechen der Politik. Sie weisen auf Fehler im System hin und üben zugleich Protest; als Zeichen gegen politische Gespräche zur Internetzensur legten „Anonymous“ Anhänger kurzfristig Websites der Regierungen in Österreich und Polen lahm. Diese digitalen Robin Hoods sind eine aus dem Teenager-Forum 4Chang hervorgegangene Hackergruppe. Der rasante Einstieg der Piraten in die deutsche Parteienlandschaft steht nicht nur für die Forderung nach einer anderen Politik, sondern auch für das Bedürfnis nach einer neuen, direkteren „Schnittstelle“ in die Politik. Die Piraten sind inzwischen Partei geworden, gewachsen aus Protest, der sich aus dem Internet entwickelt hat – heute gibt es sie in über 30 Ländern weltweit.
Online Bewegungen – Vorreiter einer neuen Art der politischen Beteiligung?
Sind diese Bewegungen Vorreiter einer neuen, schnelleren Art der politischen Teilhabe von ehemals Politikverdrossenen? Können Aktionen durch Internet und Social Media wirklich soziale Erneuerungen mit tiefgreifenden, grenzüberschreitenden oder gar globalen Konsequenzen hervorrufen? Vielleicht sind die „Kinder des Internet“, so Marina Weisband, ehemalige politische Geschäftsführerin der deutschen Piratenpartei, tatsächlich eine treibende Kraft. Nirgends ist die Zahl der Menschen, die eine Kultur des Teilens von Wissen, mehr Gerechtigkeit und Transparenz wünschen, größer als im World Wide Web. Aber diese Bewegungen müssen ihre langfristige Wirksamkeit noch beweisen.
Die Menschen hinter diesen Protestbewegungen haben eines gemeinsam: Sie sind empört über strukturelle Verhältnisse und sie sind betroffen. Sie tauschen sich aus, sie organisieren sich über Foren und Blogs, Facebook, Twitter oder Youtube. Sie beklagen sich aber nicht nur, sie tragen Kritik und alternative Vorschläge nach außen. „Occupy“ wurde in kürzester Zeit zu einem Synonym für Protest. Die Wutbürger von Occupy kritisieren unter anderem das krisengeschüttelte Finanzsystem, das durch politische Entscheidungen und staatliche Finanzmittel gestützt wird. „Wir fordern ein Umdenken auf allen gesellschaftlichen Ebenen! Das Wirtschaftssystem soll zukünftig wieder dem Menschen dienen und nicht der Mensch der Wirtschaft“, erklärt ein Aktivist von Occupy:Frankfurt. Es musste allerdings erst eine Gruppe zur Erarbeitung konkreter Forderungen gebildet werden, die im Vorfeld die Frage zu klären hatte, ob Beschlüsse durch Mehrheitsentscheid oder nur durch Konsens, also Einstimmigkeit erreicht werden können.
Mit dem Internet in die Parlamente
Dass die Piratenpartei in Deutschland schon kurz nach ihrer Gründung solch schnelle Erfolge bei den Wahlen 2009 erzielen konnte, liegt sicher an ihrer digitalen Vernetzung. Über 70 Prozent ihrer Wähler wurden über das Internet auf sie aufmerksam, ein Drittel in Berlin waren Nichtwähler, zwei Drittel waren zuvor nicht politisch aktiv. Diese Zahlen machen deutlich, wie das Internet Selbstorganisation fördern kann.
Inzwischen sind auch die etablierten Parteien und Politiker auf die neuen Kommunikationskanäle aufmerksam geworden. Viele Politiker haben ein eigenes Profil auf Facebook, twittern Meinungen, versuchen das Netz zu nutzen, um Sympathie oder Zustimmung zu gewinnen. Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung meldete Ende 2011: „Der Bürgerdialog im neuen YouTube Kanal der Bundesregierung ist erfolgreich gestartet.“ Für die YouTube Generation, die ihr Medium schon seit Jahren nutzt, muss das wie ein Scherz klingen, denn das Medium muss glaubwürdig gelebt sein; das Medium selbst ist eben nicht die Botschaft.
Die politaktive Onlinegesellschaft – noch eine Generation entfernt
Aktivisten der digitalen Gesellschaft nutzen das Web für mehr Demokratie. Sie fordern Transparenz, Gerechtigkeit und größere Beteiligung. In den USA haben 51 Prozent der Facebookmitglieder schon mindestens einmal politische Botschaften gepostet. 36 Prozent haben laut einer Social Media Studie zu einem Thema ihre Meinung geändert, nachdem sie eine Nachricht auf Facebook gesehen haben. Wie viele Politiker ihre Meinung wegen Facebook geändert haben, wäre sicher auch eine spannende Frage gewesen.
Sicher können Facebook, Youtube, Blogs und Twitter Dialoge möglich machen. Auch unpolitische Bürger können zu fragenden und verstehenden Akteuren werden, weil ihnen die moderne Kommunikation die Zugänge zu Informationen und Organisationen erleichtert. Ob diese Möglichkeiten aber längerfristiges Engagement an politischen Prozessen forciert, ist keine Frage der Angebote im Web, sondern einfach eine Frage der Themen und wie viele Menschen sich wie stark engagieren wollen. Digitale Protestbewegungen werden immer wieder Fehler des Systems aufzeigen, so wie es auch die Protestbewegungen auf der Strasse tun. Noch ist das Medium, die digitale Kultur zu jung, um die ganze Gesellschaft zu beteiligen – die Generation der heute 50-Jährigen musste das Web erst lernen.
Für die nächsten Generationen werden soziale Plattformen selbstverständlich sein – das heißt aber nicht, dass sie deshalb automatisch zu aktiven, politisch Interessierten werden. Das Internet kann neue politische Kulturen, eine direktere Beteiligung möglich machen – es bleibt nur zu hoffen, dass es nicht bei einem „I-like“-Button bleibt.