Aus Angst vor ungesunder Nahrung mit zuviel Kalorien, Schadstoffen und Gentechnik essen manche lieber fast gar nichts. Krank durch den Gesundheitswahn. Ist Orthorexie eine Mode-Diagnose?
In den USA verhungerte eine Frau, weil sie panische Angst vor fetten, schadstoffbelasteten und gentechnisch veränderten Lebensmitteln hatte. Solche Ängste teilen auch in Deutschland viele Verbraucher. Nehmen sie überhand und wird gesundes Essen zur Obsession, sind die Betroffenen auf dem besten Weg krank zu werden. Aber Experten streiten noch über die Anerkennung der Orthorexie als neuer Krankheit. Ist der Zwang, absolut gesund zu essen, nur eine Ernährungsmarotte oder eine neue Krankheit?Viele Essstörungen sind inzwischen gut erforscht. Magersüchtige, Esssüchtige und Essbrechsüchtige finden Hilfsangebote, Ratgeber und spezialisierte Kliniken. Sie alle haben eines gemeinsam: eine äußerst ungesunde Ernährungsweise, die auf Dauer zu körperlichen und seelischen Schäden führt. Aber auch der Durchschnittdeutsche isst Studien zufolge zu viel, zu fett und zu ungesund. Viele Ärzte sind deshalb froh über jeden Patienten, der zu gesunden und ausgewogen Nahrungsmitteln greift.
Gesund essen kann zum Zwang und krankhaft werden
Manche Menschen allerdings übertreiben die Sache mit dem gesunden Essen. Sie haben Angst vor kalorienreichen, schadstoffbelasteten oder gentechnisch veränderten Nahrungsmitteln. Und auch das kann paradoxerweise Anzeichen für eine Essstörung sein, das behauptet jedenfalls der amerikanische Arzt Steven Bratman. Das klingt erstaunlich, denn bislang galten nur ungesunde Ernährungsgewohnheiten als Essstörung.
Bratman ist überzeugt, es gebe einen krankhaften Zwang, sich gesund zu ernähren. Und der treibe vorwiegend Frauen zwischen 20 und 40 Jahren dazu, alle „schlechten“ Nahrungsmittel vom Teller zu verbannen: alles mit zu viel Kalorien oder ungesunden Inhaltsstoffen, alles, was nicht aus biologischer Landwirtschaft oder artgerechter Tierhaltung stammt, und sogar alle gekochten Speisen. Das kann laut Bratman so extrem werden, dass Betroffene nur noch wenige, ausgewählte Dinge essen. Da kommen zum Beispiel nur frisch gepflückte Rohkost, reines Meersalz und Quellwasser auf den Tisch. Die Betroffenen berechnen den Nährstoffgehalt der Lebensmittel, verfolgen akribisch ihre Herkunft und wägen mögliche Vor- und Nachteile ab.
Beim gesunden Essen sollte man auf keinen Fall den Genuss vergessen
Dabei bleibt nicht nur der Genuss auf der Strecke, es kommt auch zu Mangel- und Unterernährung. Bratman berichtet auf seiner Internet-Seite von einer jungen Frau, der diese Ernährungsmarotte zum Verhängnis wurde. Kate Finn ernährte sich über Jahre hinweg nur von rohem Obst und Gemüse und nahm drastisch ab. Sie starb schließlich an den Folgen ihres Untergewichts. Bratman fordert Ärzte deshalb auf, die Probleme der „Health-Food-Junkies“ ernst zu nehmen.
Auf die Idee, dass vernünftiges Essen ungesund sein kann, stieß er übrigens aus eigener Erfahrung. Bratman konnte selbst kaum noch etwas essen, ohne sich den Kopf über Vitamine, Kalorien, Nähr- und Schadstoffe zu zerbrechen. Angespornt durch den Wunsch, das eigene Altern hinauszuzögern, war der Wunsch, gesund zu essen, in den Wahn gekippt, perfekt zu essen.
Die Symptome für Orthorexia nervosa sind vielseitig und oft nicht eindeutig
Fachleute nennen dieses Essverhalten Orthorexia nervosa, oder kurz: Orthorexie (griech.: orthos = richtig, orexis = Appetit). Essen Orthorektiker etwas, das gegen ihre rigiden Regeln verstößt, leiden sie unter heftigen Schuldgefühlen. Und sie bekommen früher oder später soziale Probleme. Denn wer sich auf exklusive Zutaten fixiert, dem geraten Betriebsfeste und Familienfeiern zum Alptraum. Nudeln beim Italiener oder ein Plausch bei Kaffee und Torte gehen Betroffene lieber aus dem Weg.
Andreas Schnebel vom Bundesfachverband für Essstörungen, mahnt: „Man sollte die Symptome immer dann ernst nehmen, wenn sie in Richtung Magersucht gehen, wie stetige Gewichtsabnahme, körperliche Folgeschäden, oder wenn die Betroffenen sozial isoliert sind. Also wenn es beispielsweise schon zum Problem wird, mit den Kollegen essen zu gehen.“
Ist die Orthorexie aber tatsächlich eine neue Krankheit? Und muss jeder, der Pizza und Pommes verschmäht, fürchten, daran zu leiden? – Da gilt zunächst einmal Entwarnung: Bratmans Thesen sind in Fachkreisen umstritten. Es gibt keine Zahlen, nicht einmal Schätzungen, wie viele Menschen betroffen sind. Bis heute ist die Orthorexie nicht im international gültigen Verzeichnis von Krankheiten (ICD) aufgeführt. Andreas Karwautz, Experte für Ernährungsstörungen an der Uniklinik Wien, sagt klipp und klar: „Orthorexie ist keine Essstörung.“ Um eine Diagnose stellen zu können, müssten klare diagnostische Kriterien vorliegen. Die gibt es aber für die Orthorexie nicht.
Orthorexie ist in Deutschland noch nicht ausreichend erforscht
Ähnlich sieht das Jörn von Wietersheim, Leiter der Ambulanz an der Ulmer Uniklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie: „Es könnten wahnhafte Züge sein, die dort auftreten, auch an Zwangsstörungen ist zu denken. Wichtig wäre, wenn man überhaupt von einer Krankheit spricht, ein Leidensdruck der Betroffenen. So lange sie nicht massiv an Gewicht verlieren oder das Gefühl haben, nichts mehr gegen ihr Essverhalten tun zu können, gibt es keine Therapienotwendigkeit.“ Und das scheinen die passionierten Gesundesser genauso zu sehen: In 20 Jahren Berufspraxis hatte von Wietersheim erste eine Patientin, die sich wegen orthorexie-ähnlicher Symptome in der Klinik behandeln ließ.
Auch Georg Ernst Jacoby, Chefarzt der Klinik am Korso in Bad Oeynhausen, der einzigen deutschen Fachklinik, in der ausschließlich Essstörungen behandelt werden, ist skeptisch. Seiner Meinung nach ist die Orthorexie eher ein Fall der amerikanischen Krankheitserfindungsindustrie: „Bei vielen Menschen, die Wert auf gesunde Ernährung legen, ist es schwierig zu entscheiden, ob es sich um eine allgemeine Gesundheitssorge, Vorformen einer Magersucht oder eine sogenannte Orthorexie handelt. Die Symptome vermischen sich.“ So lange Betroffene keinen Leidensdruck verspüren, sieht er jedoch keinen Grund für eine Behandlung.
Man sollte also ruhig auch weiterhin gesund essen – entspannt, mit Genuss und ohne Krankheitsfurcht.