Wie verändert sich eigentlich unser Gehirn durch Meditation? Welchen Einfluss hat die Meditation auf typische Volkserkrankungen wie Depressionen und Schmerzen? Wie können wir die Anwendung von Meditations- und Achtsamkeitstechniken in Unternehmen und am Arbeitsplatz eigentlich bewerten? Ist Meditation nur Mittel zum Zweck und gehört sie überhaupt in Unternehmen?
Solche und andere wichtige Fragen diskutieren Wissenschaftler und Meditationsexperten auf dem interdisziplinären Kongress zur Meditations- und Bewusstseinsforschung “Meditation & Wissenschaft 2016” vom 25. bis zum 26. November 2016 in Berlin. Als Autorin des Blogs “OMlinemagazin” berichte ich für evidero über das Programm und die Inhalte des diesjährigen Kongress.
Das Programm des vierten Meditationskongresses “Meditation & WIrklichkeit: Macht Zweck Sinn” ist diesmal besonders spannend, weil internationale Konzerne wie RWE, Google und SAP auf Wissenschaftler, Meditations- und Yogalehrer sowie den “Specter of McMindfulness” Prof. Dr. Jon Kabat Zinn persönlich treffen, der in Deutschland vor allem durch seine zahlreichen Bücher zum Thema Achtsamkeit und die populäre Methode MBSR (mindfulness based stress reduction) bekannt geworden ist.
Das ist Achtsamkeit: Ursprünglich eine jahrtausendalte Vorübung zur Meditation
Viele Menschen fragen sich immer noch: Was ist eigentlich Achtsamkeit? Kurz gesagt ist sie eine Form meditativer Übung, die unsere Wahrnehmung schärft und unsere geistige Wachheit, Klarheit und Bewusstsein fördert, fordert und formt. Sie stammt ursprünglich aus der zutiefst religiösen Praxis buddhistischer Mönche, die sie als Vorbereitung für die tiefergehende Meditationspraxis nutzen, um die wahre Buddha-Natur zu erfahren.
Sie spielt aber auch in anderen religiösen Traditionen Asiens eine zentrale Rolle, so wie im indischen Yoga, dem ursprünglich göttlichen Erfahrungsweg der Hinduisten zu Brahman. Achtsamkeit soll den Geist von den Ablenkungen des Alltags abziehen, so dass die eigentliche Meditation mit dem Ziel der göttlichen Erleuchtung möglich wird.
Wir machen Yoga oder Meditation aus Sehnsucht nach innerem Frieden und Spiritualität
Mit zunehmender Atheisierung der westlichen Kultur kommt die Achtsamkeit gleichsam losgelöst von religiösen Bezügen in Form von modernem Yoga, Meditation oder Achtsamkeitstechniken (wie Atembeobachtung, Körperwahrnehmung) daher. Die achtsamkeitsbasierten Formen des Zugangs zu innerer Ruhe und Freiheit oder gar zur spirituellen (Spiritus: Geist, Sinn, Hauch) Berührung mit ETWAS, das größer ist als wir selbst, ersetzte einst religiöse Praktiken wie tägliche Gebete oder regelmäßige Besuche von Gottesdiensten. Längst füllen Yoga- und Meditationsrituale das spirituelle Vakuum durch zunehmende Entreligiösierung.
Yoga mit Jesus? Yoga und Meditation funktionieren mit oder ohne Religion
Ein wichtiges Merkmal der im Westen praktizierten Achtsamkeitsmethoden liegt auf deren grundsätzlich transreligiösen oder transkonfessionellen Ausrichtung, weil sie nicht in einem religiösen oder konfessionellen Sinne praktiziert werden müssen. Niemals wäre Yoga bei uns ein solcher Boom geworden, wäre das Yoga weiterhin dem hinduistischem Ursprung zu nahe geblieben. Nie wäre Meditation oder Achtsamkeit so sehr in den Blickpunkt gerückt ohne deren wissenschaftliche Untermauerung mit vielen positiven Anwendungsergebnissen für unsere Gesellschaft.
Noch vor zehn Jahren traute sich kaum jemand zu Beginn der Yogastunde laut Ohm zu tönen – heute ist Ohm der multimediale Soundtrack und Icon (Erkennungszeichen) einer ganzen Yogabewegung. Die transreligiöse Betonung der einstigen Techniken zur Gotteserfahrung macht es nun möglich, dass unsere eigenen kulturellen Besonderheiten in die einst fernöstlichen Methoden einfließen.
Gut zu beobachten ist dies zum Beispiel am Körperkult unserer westlichen Zivilisation, der sich folgegerecht in fast ausschließlich körperbetonten Yogastilen äußert, die schon eher an Sport grenzen.
Meditation und Yoga im Westen sind ein Lebensgefühl und anfällig für kommerzielle Trends
Dieser kulturelle Einfluss ist völlig frei und ungesteuert, er unterliegt Strömungen von Moden, Fitness- oder Ernährungstrends. “Jahrhundertelang wurden Meditationsübungen innerhalb eines spezifischen aus Wissen und Glauben zusammengesetzten Weltbildes gelehrt. Im Gegensatz zu diesen altehrwürdigen Traditionen, in denen verantwortliche Lehrer ihre Schüler individuell geführt haben, so dass schädliche Wirkungen vermieden werden konnten, wird Meditiation heute als Ware auf dem Massenmarkt angeboten.” (Zitat Margaret Thaler Singer “Sekten – wie Menschen ihre Freiheit verlieren und wiedergewinnen können”)
Der fehlende religiöse und kulturelle Bezug macht also eine zweckgerichtete Aneignung durch Industrie und Wirtschaft möglich. So zum Beispiel zu rein kommerziellen Zwecken, wenn Yoga oder Gelassenheit zum Ausdruck eines Lebensgefühls werden, mit dem sich auch prima Getränke, Kleidung oder sogar Strom und Autos verkaufen lassen. Erstmal von Marketingstrategen als Trend dingfest gemacht, ist die Umsetzung käuflicher Lebensgefühle durch entsprechende Produkte nicht weit.
Unternehmen nutzen Meditationstechniken vor allem zur Effizienzsteigerung
Aber es geht um mehr als Produkte, die den Schein eines achtsamen Lebensgefühls in sich tragen. Es geht um die Unternehmen selber, die sich Methoden der Achtsamkeit aneignen, um ihre Führungskräfte und Mitarbeiter nachhaltig zu binden sowie erfolgreicher und effizienter zu machen.
Denn Achtsamkeit steigert nachweislich die Konzentrationsfähigkeit, die Klarheit des Denkens, den Blick für das Wesentliche, das gelassene Nicht-Reagieren auf unerwünschte Gedanken oder Vorgänge. Es ist von großem Vorteil für Unternehmen, wenn Chefs und Mitarbeiter sich besser konzentrieren können und zielorientierter handeln, und wenn sie durch mehr Gelassenheit ihre Arbeit meistern, ohne dabei körperlich oder seelisch krank zu werden.
In unserem Blog “OMlinemagazin” stellt evidero Autorin Annette Coumont Themen und Trends rund um Achtsamkeit, Yoga und ein bewusstes Leben vor. Wir zeigen euch, wie Achtsamkeit im Alltag, in der Familie, im Job, bei der Ernährung, in der Therapie oder beim Konsum konkret aussehen kann.
Meditation am Arbeitsplatz senkt Krankheitskosten und macht Mitarbeiter leistungsfähiger
Mehr Effizienz, bessere Arbeitsergebnisse, weniger Krankheitsfälle – das sind wesentliche Pluspunkte einer präventiven Meditations- oder Achtsamkeitsschulung in großen Unternehmen, die sich zu lohnen scheinen. Denn laut der Studie “Bleib Locker” der Techniker Krankenkasse zum Beispiel sind 80 Prozent der leitenden Angestellten und 60 Prozent der normalen Mitarbeiter von ihrem Job gestresst. Psychische Erkrankungen wie Burnout sind bereits der zweithäufigste Grund für eine Krankschreibung und dies mit besonders langen Folgen.
Kein Wunder, dass sich Unternehmen die beliebten “Zen Leadership Seminare” bis zu mehreren tausend Euro pro Führungskraft, je nach Anbieter und Dauer, kosten lassen. Und auch die Implementierung von Yoga- oder Achtsamkeitsmethoden im Arbeitsalltag für “normale” Mitarbeiter sind Investitionen, die die zunehmenden Kosten durch physische und psychische Erkrankungen wie Rückenleiden oder Burnout senken können.
So wirkt Meditation auf uns: Der kulturelle Kontext und seriöse Lehrer sind wichtig
Die einzelnen Mitarbeiter können natürlich auch persönlich davon profitieren, denn meist macht Yoga und Meditation entspannter, gelassener und auf Dauer gesünder und zufriedener.
Aber was passiert, wenn die Quelle des neuen Wohlgefühls nicht den Meditationsmethoden selber, sondern im Kontext der Institution, die sie anbietet, wahrgenommen werden? Zum Beispiel, wenn die Einbindung der Meditation so eng mit der Corporate Identity (Unternehmenskultur/Verständis) des Unternehmens verschmilzt, dass die Mitarbeiter geradezu mit dem gewünschten Wachstumspuls des Unternehmens atmen?
Meditation und Missbrauch: Verbraucherschutz für Folgen der Meditation gefordert
Mentale Techniken wie die Meditation können auch missbräuchlich wirken und Menschen abhängig machen. Denn Meditation kann auch Schwachstellen und psychische Probleme sichtbar machen und zum Beispiel auch Ängste auslösen.
Ein seriöser Meditationslehrer würde in solchen Fällen die Meditation abbrechen und auf die Möglichkeit einer Psychotherapie zur begleitenden Verarbeitung von psychischen Störungen hinweisen. Wird dies aber nicht gemacht, oder ist dies im Rahmen eines institutionellen Kontext, wie dem des eigenen Arbeitgebers, nicht möglich, dann können Ängste auch zur Konditionierung von Abhängigkeiten führen. Vor allem wenn Mitarbeiter ihre Ängste nicht zeigen oder offenbaren wollen, weil sie nachteilige Folgen für sich daraus erwarten.
Die Enquete-Kommission des Bundestages hat deswegen bereits einen Verbraucherschutz für die Anwendung psychologischer und meditativer Techniken gefordert. “Meditation ist ein mächtiges Werkzeug. In der Hand des Verantwortlichen und Erfahrenen kann es hilfreich sein und inneren Frieden stiften, aber in der Hand des Gewissenlosen wird sie zur furchtbaren, persönlichkeitszerstörenden Waffe.” (Zitat Margaret Thaler Singer: ebenda)
Google, SAP, RWE und dm auf dem Kongress Meditation & Wissenschaft
Der Kongress Meditation & Wissenschaft in Berlin geht der Meditation wissenschaftlich auf den Grund und beschäftigt sich diesmal mit Meditation in Unternehmen, als Gegenstand der Gehirnforschung oder Heilmittel in der Medizin. Ob Meditation ein individuelles Instrument innerer Freiheit und spiritueller Persönlichkeitsentwicklung bleibt, oder ob es eine zunehmend zweckgerichtete Aneignung durch Institutionen im Bereich Wirtschaft, Gesundheit oder Bildung geben wird, das sind die offenen Fragen, über die Wissenschaftler, Experten und Unternehmensführer in Berlin diskutieren werden.
Unbedingt achtsam verfolgen!
Weiterführende Informationen und Links:
- Was ist die Buddha-Natur?
- Studie zum Stress von der TK
- Informationen zu Sekten
- Mediation für Manager im Handelsblatt
- http://7mind.de/