Kostenloser Berufe-Check
Berufswahlorientierung mit Hilfe von KI - ohne Anmeldung und mit individuellen Ergebnissen. Auf unserer Azubi-Plattform azubister - für Eltern und Schüler:innen
Jetzt ausprobieren!

Benjamin Pütter über Kinderarbeit in Indien: Kleine Hände, großer Profit

Obwohl Kinderarbeit international verboten ist, arbeiten weltweit Millionen von Kindern unter unvorstellbaren und menschenunwürdigen Bedingungen - damit wir billig einkaufen können.
Jutta Echterhoff
von Jutta Echterhoff
Kinderarbeit verhindern© Benjamin Pütter

Der Kinderarbeitsexperte Benjamin Pütter reist seit 37 Jahren nach Indien, um dort Jungen und Mädchen zu retten, die schon mit fünf Jahren unter schlimmsten Bedingungen schuften müssen. In seinem neuen Buch „Kleine Hände, großer Profit“ deckt er die Missstände vor Ort auf, prangert die Machenschaften skrupelloser Unternehmen an und appelliert an Politik und Konsumenten, endlich einzulenken. Unsere Redakteurin Jutta Echterhoff hat mit Benjamin Pütter über sein Engagement und den dringend notwendigen Auswegen gesprochen. Im Interview erzählt er von seinen gefährlichen Befreiungsaktionen und welche Schicksale ihn noch heute bewegen.

evidero   Lieber Herr Pütter, in 37 Jahren sind Sie 80 Mal nach Indien gereist. Sie müssen sehr jung gewesen sein, als Sie das erste Mal dort waren. Wie kam es zu Ihrem Engagement gegen Kinderarbeit?

Nach dem Abitur wollte ich in ein Land aus der Dritten Welt. Mir schwebte damals Argentinien vor, aber das war zu dieser Zeit zu gefährlich. Indien war das letzte Land, in das ich wollte, aber wie es das Schicksal wollte, bin ich dann doch dort gelandet – zunächst als Reiseführer.

In Deutschland arbeitete ich inzwischen als Redenschreiber für den Bundestag, u.a. für Petra Kelly. Als ich dann gefragt wurde, ob ich Lobbyarbeit für Indien machen wollte, war ich sofort dabei. Außerdem habe ich einen sehr guten Draht zu Kindern, bin selbst Vater einer Tochter, und war schockiert, als ich in Indien gesehen habe, unter welchen Bedingungen dort schon kleine Kinder zur Arbeit gezwungen werden.

 

evidero   Welche Länder und Branchen sind besonders von Kinderarbeit betroffen?

Benjamin Pütter
Interviewpartner: Benjamin Pütter
Benjamin Pütter, 1958 in Freiburg geboren, ist Kinderarbeitsexperte. Als solcher reist er seit 37 Jahren in Länder, in denen Kinderarbeit besonders verbreitet ist und begleitet Sozialprojekte zur Wiedereingliederung ehemaliger Kindersklaven.
Zunächst einmal müssen wir definieren, was Kinderarbeit überhaupt ist – nämlich ein Kind unter 15 Jahren, das nicht zur Schule gehen darf, weil es arbeiten muss. Und wenn diese Arbeit, zu der die Kinder gezwungen werden, auch noch gesundheitsgefährdend und ausbeuterisch ist, dann gehe ich dagegen an.

Mir geht es hier um die Durchsetzung des Menschenrechts auf Bildung. Der Kontinent mit den meisten arbeitenden Kindern ist Afrika, das Land mit den meisten Kinderarbeitern ist jedoch Indien – ungefähr ein Drittel weltweit. Prozentual sind es in einigen Ländern sogar noch mehr als in Indien; dort vor allem in der Teppich- und Natursteinindustrie. Die internationale Arbeitsorganisation ILO beziffert die Zahl auf 168 Millionen Kindern weltweit, die UN auf 190 Millionen.

In vielen Produktionsbereichen, deren Produkte wir in Deutschland kaufen, werden Kinderarbeiter eingesetzt. Verheerend ist die Kinderarbeit in Steinbrüchen und an Knüpfstühlen. Manche Kinder kennen kein Leben außerhalb eines Steinbruchs. Sie besitzen nur das, was sie am Leib tragen, weit weg von ihren Eltern und ohne jegliche Bildung. Die Branchen mit den meisten Kinderarbeitern:

  • Teppich-, Naturstein-, Schmuck-, Seidenindustrie
  • Feuerwerkskörper, Zigarettenindustrie, Hausangestellte
  • Räucherstäbchen-, Waffenproduktion

 

evidero   Sie haben schon viele Kinder befreit und in Übergangszentren zum Teil bis zu ihrer Hochzeit begleitet. Welches Schicksal hat Sie in all den Jahren am meisten berührt?

Das ist das Schicksal von Shamshundar aus Indien. Der Fall liegt schon viele Jahre zurück und quält mich bis heute. Dieser kleine Junge hat 600 km von zu Hause entfernt in der Teppichindustrie gearbeitet. Weil er zu langsam arbeitete, hat ihn der Vorarbeiter mit einem schweren Metallkamm, den man zum Teppich knüpfen benutzt, erschlagen.

Sein kleiner Freund musste alles mitansehen, hat tagelang nur geschrien und wurde schließlich vor die Tür geworfen. Irgendwie hat es dieser Junge nach Hause geschafft. Als ich ein Jahr später in dem Dorf war, wollte die Mutter von Shamshundar endlich wissen, wer ihr Kind ermordet hat, aber ich konnte ihr nicht helfen. Diese Hilflosigkeit ist schrecklich. Der zweite Sohn der Familie ist verhungert.

In einem anderen Fall ging es um Folterungen mit glühenden Eisenstangen am ganzen Körper. Diesen Jungen konnten wir befreien. Er leitet heute sogar ein Übergangszentrum für befreite Kindersklaven. Das bewegt mich zwar auch noch, aber ich fühle mich in diesem Fall nicht so hilflos.

Aber es gibt auch Positives zu berichten: Kinder, die über Jahre zur Arbeit gezwungen und gefoltert wurden, die nie aus einem Steinbruch rausgekommen sind und unter dem Kaspar-Hauser-Syndrom litten, haben es geschafft, ihr Trauma zu überwinden. Ich habe mit einer Psychologin vor Ort gesprochen und die hat unserer Arbeit in den Übergangszentren gute Zeugnisse ausgestellt. Darüber bin ich sehr froh.

 

evidero   Sie erklären in Ihrem Buch auch das Kastensystem und den gesellschaftlichen Hintergrund in Indien. Warum geben Eltern ihre Kinder an Menschenhändler?

Es gibt zwei Gründe. Der erste ist die Unwissenheit. Viele Eltern sind Analphabeten. Ich habe mal ein Dorf besucht, in dem wirklich jeder dachte, die Erde sei eine Scheibe. Das glaubt mir hier keiner. Die Familien sind sehr arm, die Kinder schreien vor Hunger.

Mittelsmänner versprechen den Eltern dann Geld (umgerechnet 7 Euro) für Essen und eine Ausbildung für den 6-jährigen Sohn, der ihnen dann regelmäßig Geld schicken wird. Das machen die Eltern dann. Sie verstehen nicht, dass jemand ihrem Kind etwas Böses will. Nach zwei bis drei Jahren fragen die Familien dann nach (die 7 Euro, die sie umgerechnet erhalten hatten, müssten ja schon längst abgearbeitet sein) und suchen nach ihrem Kind. Manche finden es, kriegen es aber nicht zurück. Dann geht unsere Arbeit los.

Ein weiterer Grund ist die sogenannte Schuldknechtschaft. Kinder müssen die Schulden, die z.B. für eine Hochzeit aufgenommen haben, abarbeiten. Da spielen dann auch noch horrende Zinsen mit rein, die niemals abgezahlt werden können. Wird die Auslieferung des Kindes verweigert, wird die Hütte abgebrannt. Das ist keine Seltenheit. Dann gibt es auch seltene Fälle von Entführung. Manche Kinder werden einfach von LKWs von der Straße aufgegabelt und mitgenommen.

 

evidero   Sie kritisieren die Machenschaften von skrupellosen Unternehmern und das unreflektierte Konsumverhalten der Wohlstandsgesellschaften. Was genau sind die Ursachen der Kinderarbeit und was kann jeder einzelne konkret dagegen tun?

Zunächst einmal muss man sagen, dass die Ursache von Kinderarbeit NICHT Armut ist. Armut ist die Folge der Kinderarbeit. Man konnte schon oft verfolgen, dass Armut erst abnimmt, wenn die Kinderarbeit verschwindet. Das war übrigens auch in Deutschland zu beobachten, als der Alte Fritz Kinderarbeit abschaffte, um später leistungsfähige Soldaten zu haben.

Natürlich ist die Profitgier von Unternehmenschefs eine Ursache und auch die mangelnde Gesetzgebung. Zwar ist Kinderarbeit international verboten und es hat sich in den letzten zehn Jahren auch schon sehr viel getan, aber das reicht nicht. Es müssen mehr Taten folgen. Es gibt unzählige Konferenzen, aber zu wenig Aufklärung und Befreiungsaktionen vor Ort.

Eine weitere Ursache ist der nicht wissende Konsument. Man darf nicht vergessen, dass er sich über preiswerte Produkte wie Teppiche, Terrassen- oder Grabsteine freut. Dass der Preis nur durch das Ausbeuten von Kindern zustande kommt, wird dem Verbraucher verschwiegen. Doch wenn er aufgeklärt wäre, würde er das Produkt wahrscheinlich nicht kaufen.

Genau deshalb habe ich mein Buch geschrieben – damit wir anfangen, die Preise und Produkte zu hinterfragen. Wir müssen uns fragen, ob ein fairer Lohn zugrunde liegen kann. Wir können dazu beitragen, indem wir nachfragen, woher ein Produkt kommt. Es ist natürlich unmöglich, bei jedem Produkt nachzufragen, aber bei einigen schon. Und da müssen wir bewusster agieren – besonders bei Produkten, die von weit herkommen. Ich kann immer nur wieder appellieren: Nachfragen, wo es geht. Damit beginnt Veränderung!

 

evidero   In der Natursteinindustrie gibt es viele Siegel, aber nur wenige, die tatsächlich etwas wert sind. Welchen Siegeln kann man trauen?

Die Bundesregierung hat eine wunderbare Seite erstellt: www.siegelklarheit.de. Dort sind für alle Branchen die besten Siegel aufgeführt. Ist ein Produkt mit einem Siegel versehen, das dort nicht aufgeführt ist, besser die Finger davon lassen. Viele Siegel sind von Händlern schlichtweg erfunden und nichts wert. In der Steinindustrie sind solche Fake-Siegel besonders beliebt. Auch gefälschte Siegel kommen vor. Ist ein Siegel auf dieser Seite der Bundesregierung nicht aufgeführt, dann ist es nicht vertrauenswürdig. An dieser Stelle hat der Konsument eben auch die Pflicht, sich selbst schlau zu machen. Diese extra Arbeit müssen wir uns im Sinne der Kinder machen.

evidero-Tipp

Die Seite www.siegelklarheit.de führt sämtliche Siegel aus verschiedenen Produktgruppen auf. Von Lebensmitteln, Kosmetik, Wasch- und Reinigungsmitteln, Papier, Textilien, EDV oder Holz bis hin zu Natursteinen. Siegel einer Produktgruppe werden dort erklärt und bewertet. Siegelklarheit heißt auch die dazugehörige App. Das Produktsiegel wird mit dem Smartphone einfach eingescannt und auf seine Aussagekraft und Glaubwürdigkeit überprüft.

 

evidero   Was wünschen Sie sich von der Bundesregierung?

Ich wünsche mir von der Bundesregierung, dass sie dem Beispiel der USA folgt. In den USA fängt das schon beim Import am Zoll an. Schöpft jemand Verdacht, kann er das der Zollbehörde melden, so dass der Import gestoppt wird. Bestätigt sich der Verdacht, erhält derjenige eine Belohnung.

In Deutschland ist das anders. Hier gibt es kein Importverbot für Produkte aus Kinderarbeit, denn der Verkauf von Produkten aus ausbeuterischer Kinderarbeit ist hier erlaubt. Ich selbst müsste per Gerichtsurteil 250.000 Euro Strafe zahlen, wenn ich auf diese Produkte aufmerksam machen würde, denn dann – so heißt es – würde ich den Verkauf stören und mich strafbar machen!

Da muss die Bundesregierung beim Europäischen Parlament vorstößig werden und ein Importverbot für Produkte aus Kinderarbeit durchsetzen. Das wünsche ich mir.

 

evidero   Welche Erfolge haben Sie in den 37 Jahren erzielt? Können Sie ungefähr beziffern, wie viele Kinder Sie befreit und gerettet haben?

Ich selbst habe an der Befreiung von 628 sogenannten Migranten-Kindersklaven, die weit weg von zu Hause arbeiten müssen, mitgewirkt. Wir begleiten die Kinder auch nach der Befreiung in Übergangszentren. So stellen wir sicher, dass sie zum Beispiel nach einer Zahlung von Befreiungsgeld nicht wieder in der Sklaverei landen. So etwas kommt bei uns nicht vor.

Es gibt Organisationen, die sich nach einer Befreiung nicht mehr um die Kinder kümmern, dafür aber über die hohe Anzahl freuen. Mir ist wichtig, wie es mit den Kindern weitergeht. Über zwei Fälle freue ich mich besonders. Ein 15-jähriger befreiter Analphabet ist heute Bürgermeister seiner Stadt, ein anderer hat sich Nähmaschinen gekauft und betreibt heute eine eigene kleine Schneiderei. Solche Schicksale motivieren mich tagtäglich aufs Neue.

evidero   Herzlichen Dank für das Interview.

Jutta Echterhoff
Expertin: Jutta Echterhoff
Jutta Echterhoff ist Herausgeberin des digitalen Büchermagazins KolibriMAG. In ihrer evidero Rubrik echtSTARK! stellt sie bei evidero Frauen vor, die durch einen bewussten Lebens- oder Arbeitsstil Außergewöhnliches leisten.