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Introvertierte Menschen: Lizenz zum leise sein

Extrovertierte Menschen fallen mehr auf als introvertierte. Aber heißt das, dass sie auch besser im Job sind?
von Caro Ritgen
Auch leise kann man erfolgreich sein© lassedesignen - Fotolia.com

Ist es wirklich ein Vorteil, extrovertiert zu sein?  In unserer leistungsorientierten Gesellschaft scheint es so, als sei es ein unabdingbares Muss, um erfolgreich zu sein. Aus sich herausgehen, zu viel arbeiten, überall mitreden, immer die Nase vorn haben. Mit jedem spaßen, immer einen vollen Terminkalender haben, jedes Wochenende ausgehen. Dabei gibt es natürlich auch enorm viele introvertierte Menschen. Sind die etwa automatisch nicht erfolgreich? Die Kolumnisten Caro Ritgen hat da ihre eigene Sicht:

Liebe Netzwerker,
hätten sich Bill Gates, Mark Zuckerberg und Albert Einstein bei „Germany’s Next Topmodel“ beworben, hätte die Jury gesagt: „Du zeigst uns nicht genug Persönlichkeit“.

Extrovertierte Menschen sind erfolgreicher

Kontaktfreudig, selbstbewusst, gesellig, aktiv und enthusiastisch soll der modere Karrieremensch sein. Dann wird er beruflich erfolgreich. Das predigen die Casting-Experten zurecht. Extrovertierte Menschen, die schnell und laut sprechen, werden als besser aussehend, intelligenter und kompetenter wahr genommen.

Sogar Studien über Gorillas haben nachgewiesen: aktive, vorlaute Menschen-Affen überleben länger – wie Heidi Klum in den Medien. Wir leben im Zeitalter der Selbstdarsteller und Netzwerker. “Hauptsache ist, dass man sich gut verkauft“, lehren Professoren an deutschen Universitäten: Sympathie verhilft zu Karrieresprüngen, auch „Vitamin B“ genannt, B für soziale Beziehungen.

Das Phänomen war in Heidi Klums Modelshow zu beobachten: Maike und Luise waren die Besten. Doch Maike zog sich oft von der Gruppe zurück und galt als Außenseiterin. Der ruhigen Luise wurde von Branchenkennern ein „Million-Dollar-Face“ voraus gesagt. Aber die Jury kritisierte, sie habe nicht genug Spaß am Model-Job, weil sie ängstlich ist.

Neben den beiden Model-Gesichtern agierte ein anderes Mädchen namens Lovelyn. Sie achtete sehr darauf, sympathisch aufzufallen und hatte die meisten Facebook-Fans. Ständig lachte sie und zeigte Initiative. Heidi Klum fragt: „Warum kannst nur du Germanys Next Topmodel werden?“ und die Siegerin ruft strahlend mit voller Überzeugung: „Weil ich immer fröhlich bin“.

Ihre Hüfte erfüllt mit 96 Zentimetern nicht die Grundvoraussetzung der üblichen Maße. Die optische Kopie der Sängerin Beyoncé wurde von Klum „Baby-Beyoncé“ getauft. Allen Ernstes begründete Klum tatsächlich mit “Deine positive Art hat uns begeistert“ die Entscheidung für die weniger qualifizierte Bewerberin. Das ist nicht logisch. Aber deswegen heißt es ja auch „psycho-logisch“.

Alphatiere und Platzhirsche bekommen die besten Jobs – zu Recht?

Man stelle sich vor, Klum fragt Bill Gates: „Warum kannst nur du der reichste Mann der Welt werden?“ und „Mister Microsoft“ ruft mit strahlendem Augenaufschlag: „Weil ich immer fröhlich bin“. Das wird nicht passieren.

Aber ähnlich läuft es ab: wer laut von sich reden macht, bleibt im Gespräch. Die besten Netzwerker sind die Alphatiere und Platzhirsche im Job. Sie fallen positiv auf bei Meetings, Netzwerktreffen und After-Work-Partys. Und was ist mit den Introvertierten?

Wäre Mark Zuckerberg kontaktfreudig und gesellig, gäbe es kein Facebook und er wäre kein Selfmade-Millionär. Er wird als beziehungsunfähig, kommunikationsgestört und sozial inkompetent bezeichnet. Das hat einen Grund: „Zurückhaltung wird schnell als zugeknöpft interpretiert“ sagt Sylvia Löhken. Sie ist Expertin für Persönlichkeits-Typologie. Mit ihrem Buch „Leise Menschen, starke Wirkung“ beschreibt sie ein Phänomen, das alle kennen sollten: Ein Kind wird intro- oder extrovertiert geboren. Das meint, die Persönlichkeit ist „nach innen“ oder „nach außen“ gekehrt.

Wie unterscheiden sich introvertierte und extrovertierte Menschen?

Das ist auch gut so, denn 50 Prozent aller Menschen sind introvertiert. Die Forschung hat nachgewiesen, dass Gehirne auf unterschiedliche Weise Stress abbauen und neue Energie gewinnen. Für Introvertierte bedeuten Gespräche Anstrengung und Energie-Entzug, für Extrovertierte Stressabbau und neue Energie. Introvertierte wie Bill Gates, Mark Zuckerberg und Albert Einstein brauchen mehr sozialen Rückzug zum Erholen und Denken. So entstanden die Relativitätstheorie, Facebook und Microsoft.

Introvertiert im Job: Das sind die Schwierigkeiten

Doch in der Karrierewelt haben es Introvertierte schwerer. Sie fallen weniger auf, sind eher passiv und sprechen weniger. Ihre Mimik und Gestik ist feiner, deswegen werden sie nicht so attraktiv wahrgenommen wie lebhafte Menschen. Stille Momente nutzen sie für Ideen, nicht für Smalltalk, Facebook oder Twitter. Forschungs-Ergebnissen zufolge sei ihre besondere Fähigkeit das analytische Denken.

Introvertierte hören demnach intensiver zu, speichern mehr Details und schöpfen aus ihrem Wissen. Gespräche füllen sie mit Inhalt und Tiefe. Davon werden sie müde und angestrengt. Vorträge halten und leichter Smalltalk fallen ihnen dagegen schwer. Ihre Akkus laden sie durch Alleinsein auf. Sie beschäftigen sich gerne mit stillen Tätigkeiten wie Musik, Lesen und Schreiben.

Für extrovertierte Köpfe seien Gespräche und Vorträge kaum eine Anstrengung, sagt die Expertin: „Sie gehen nicht so tief“. Aber durch ihre lebhafte Art gewinnen sie viel Sympathie und Zuneigung. Sie sind angenehmer und entspannter. Kein Wunder: für sie bedeuten Partys, Freunde treffen, telefonieren, chatten und aktiv sein Entspannung und neue Energie. Deshalb sind sie die besseren Netzwerker und stark bei Präsentationen.

Für extrovertierte Persönlichkeiten mag ein introvertiertes Dasein antriebslos erscheinen, weil die Introvertierten nicht so sozial aktiv sind und zurück gezogener leben. Löhken nennt es „nicht artgerechte Haltung“, wenn Introvertierte alle „Extro-Aktivitäten“ mitmachen. „Durch ständige Stimulation und Unruhe wird ihnen ihre Kraftquelle der Ruhe entzogen“. Dann können sie sich schlechter konzentrieren, sind müde, gereizt und schlecht gelaunt. Die Extrovertierten interpretieren das als mangelnden Elan und Willen. Bei Germanys Next Topmodel sagt Klum dann: „Heute habe ich leider kein Foto für dich“.

Introvertiert in der Partnerschaft

„Leider habe ich keine Gefühle für dich“ heißt es ebenso fix bei der Partnersuche. Extros haben mehr Unternehmensgeist und empfinden die „Einzelgänger“ als „Bremse“. Viel auf der Suche nach dem Spaßfaktor, endet die Partnerwahl dann so ähnlich wie bei der Liebes-Show „Catch the Millionaire“. Wenn es um die Traumfrau geht, steht am Ende ein prächtiger Unternehmer à la Denis Uitz in Cowboy-Pose vor den schönen Ladys.

Natürlich entscheidet er sich lieber für das Dessous-Model „Miss Venus“, statt für die optisch ebenso attraktive Jungunternehmerin Mary, die sicherlich eine wertvolle Bereicherung gewesen wäre. Zu ihr sagt er: „Insgesamt fehlt dir die Leichtigkeit des Seins“.

Später sitzt der Millionär mit seiner Traumfrau beim Dinner auf Mallorca und stellt fest, dass sie sich außer Smalltalk nichts zu sagen haben. Liebe macht blind. Mit der introvertierten Mary wäre das wahrscheinlich nicht passiert.

„Intros sind ein geheimer Schatz,“ sagt Löhken, „die besseren Ratgeber. Nach innen Gekehrte bleiben beständiger – emotional gebunden in Beziehungen, sowie bei der Arbeit. Wenn die Extros den Wert der „anderen“ erkennen, sei der Effekt für beide Seiten ein gewinnbringenderes Leben. In den USA beginnen Wissenschaft und Wirtschaft das Potenzial der Stillen zu verstehen.

 

Autorin: Caro Ritgen
Caro Ritgen studiert Journalistik (MA) in Hamburg und wurde zum „Bloggermädchen 2011“ nominiert mit ihrem Blog über Trauma und Psychiatrie...