Ashtanga Yoga, Power Yoga oder Vinyasa Flow sind bereist sehr bekannte und sportliche Formen der Yoga-Familie. Neben diesen dynamischen Varianten arbeitet sich ein bisher eher unbekannter Yoga-Stil in die Kurspläne der Studios, der sich nicht als Konkurrenz, sondern als sinnvolle Ergänzung versteht. Yoga-Lehrerin Stefanie Arend erklärt, wieso man sowohl Yin, als auch Yang braucht und was man sich darunter eigentlich vorstellen kann.
Stefanie, wieso teilt man Yoga-Arten eigentlich in Yin und Yang auf?
Wenn man sich die alten Yoga-Schriften anschaut, dann gab es auch da schon eine Einteilung in Yin und Yang, wenn man das so nennen möchte. Im Westen hat sich in der Vergangenheit jedoch der aktive und kraftvolle Yogastil stark durchgesetzt. Jetzt erinnert man sich allmählich wieder daran, dass da auch noch eine andere Seite ist, die man ebenso beleuchten sollte. Es ist im Prinzip nichts neues, aber man hat es wiederentdeckt. Auch die westlichen Menschen beginnen nun zu verstehen, dass wir beides brauchen, wenn wir in die Mitte kommen möchten, Yin genauso wie Yang.
Und was genau unterscheidet Yin Yoga von Yang Yoga?
Der Unterschied liegt in der Aktivität beziehungsweise in der Passivität. Wenn ich Yang Yoga praktiziere, dann merke ich, dass mich das energetisiert, dass sich Hitze aufbaut in mir, es arbeitet auf der muskulären Ebene. Wenn ich Yin Yoga praktiziere, dann passiert das Gegenteil. Ich erreiche damit tiefere Gewebe und ich komme wunderbar an dieFaszien und an die Gelenke heran. Das Ganze wird passiv ausgeführt und dadurch wirkt es beruhigend und kühlend.
Yin Yoga ist Faszien Yoga
Sie haben gerade die Faszien erwähnt. Was ist das und warum sollte man sich damit beschäftigen?
Das ist ein Thema, das lange übersehen worden ist, weil man es einfach nicht besser wusste. Die Anatomie hat sich ganz lange auf die Muskeln fokussiert, weil man gedacht hat, die Faszien wären einfach nur ein Verpackungsmaterial im Körper. Man wusste gar nicht wirklich, was dahintersteckt und hat es bei Obduktionen einfach entsorgt, um an das “wichtige” Gewebe heranzukommen.
Inzwischen gibt es Messgeräte, durch die man herausgefunden hat, dass es sich nicht nur um Verpackungsmaterial handelt, sondern dass in den Faszien sogar richtiges Leben ist! Man sagt heute, dass Faszien unser sechstes Sinnesorgan sind. Wir haben 6-10 mal mehr Wahrnehmungs-Sensoren in unseren Faszien als im restlichen Körper. Deshalb ist das ein ganz wichtiger Bereich, der einfach mit einbezogen werden sollte, wenn man ganzheitlich praktizieren möchte.
Faszien sind aber etwas anderes als die Tiefenmuskulatur?
Das kann man nicht so klar trennen. Die Faszien sind nicht nur außen um den Muskel herum, sondern auch in seinem Inneren zu finden. Man kann das ganz gut am Bild einer aufgeschnittenen Apfelsine verdeutlichen. Dann sieht man überall kleine Taschen, die etwas beinhalten, und so kann man sich das auch im menschlichen Körper vorstellen. Faszien durchziehen den ganzen Körper bis in die Tiefe, also auch innerhalb des Muskelgewebes. Und natürlich beschränkt es sich nicht nur auf die Muskulatur, sondern sie bilden ein körperweites Netzwerk.
Yin Yoga trainiert Achtsamkeit im Alltag
Wie wirkt sich Yin Yoga denn auf den Alltag aus?
Ich habe für mich selber gemerkt, dass ich sehr viel achtsamer geworden bin. Yin Yoga hat einen meditativen Charakter und dadurch, dass ich über mehrere Minuten in einer Position bleibe und innehalte, befasse ich mich zwangsläufig mehr mit meinem Körper. Wenn ich sage: “Ich versuch jetzt mal zu meditieren” und merke nach fünf Minuten “Oh, das funktioniert nicht, da sind ja so viele Gedanken in meinem Kopf” und stehe wieder auf, dann habe ich mich nicht wirklich eingelassen auf die Praxis.
Für viele ist das im Yin Yoga einfacher, weil man durch den Körper einen besseren Zugang finden kann. Wenn ich gelernt habe, das umzusetzen, dann bringe ich das auch viel leichter mit in meinen Alltag. Mir werden viel subtilere Dinge in meinem täglichen Leben auffallen, die Achtsamkeit steigert sich ungemein.
Ist das auch ein Grund dafür, dass Yin Yoga jetzt immer interessanter wird und dass es immer mehr Menschen praktizieren?
Ja, ich glaube schon. Es ist ja nun einmal so: Wir leben in einer Leistungs-Gesellschaft und es ist alles immer lauter und immer schneller geworden. Vor allem durch die ständige Erreichbarkeit über Handy und Internet. Häufig ist da gar kein Raum mehr für Achtsamkeit.
Ich denke, es gibt eine tiefe Sehnsucht in den Menschen, einfach mal wieder zurückzukommen in die Ruhe. Wir sind aus dem Gleichgewicht geraten und Yin Yoga kann eine große Hilfe sein, dieses Gleichgewicht wieder herzustellen. Von daher glaube ich schon, dass immer mehr Menschen jetzt diesen Weg ausprobieren und einfach spüren: “Da passiert etwas in mir, da ist ein Ausgleich und das fühlt sich gut an”.
Unterrichten Sie selber nur Yin Yoga?
Ich gebe sehr gerne reine Yin Yoga Stunden, aber ich unterrichte auch Yin & Yang Yoga, so nenne ich das. Ich komme eigentlich aus einem ganz aktiven Yoga-Stil, ich habe früher viel kraftvolles Yoga praktiziert und stand dann irgendwann vor meinem Kurs und habe gedacht: “Ich glaube, ich kann jetzt keine weitere Stunde Power Yoga mehr unterrichten”. Es hat mich über die Jahre selber so ausgepowert, dass es sich nicht mehr authentisch angefühlt hat, so weiterzumachen. Das war der Punkt, an dem ich angefangen habe, meine Yogapraxis zu überdenken.
Dann bin ich auf Yin Yoga gestoßen und habe es immer mehr integriert, zuerst einmal in meine eigene Yogapraxis. Ich habe schnell gemerkt, wie nährend es auf mich wirkte und es mich innerlich aufgeladen hat. Dann habe ich es auch in meinen Unterricht integriert und habe am Anfang gedacht: “Na ja, ob dir jetzt nicht deine Schüler weglaufen, die eigentlich das kraftvolle Yoga gewohnt sind?” Aber das Gegenteil war der Fall! Meine Schüler waren sogar ganz dankbar, dass sie eine andere Seite kennenlernen durften und sich dadurch nach der Stunde noch mehr in ihrer Mitte gefühlt haben.
Man kann also beides in eine Stunde integrieren?
Ja, das kann man auf jeden Fall, es macht sogar sehr viel Sinn.
Haben Sie noch eine Empfehlung?
Ich finde es wichtig, dass man beides mal ausprobiert, ohne aus irgendetwas ein Dogma zu machen. Die Menschen, die zum kraftvollen Yoga kommen, sind oft die Leute, die im Alltag häufig unter Strom stehen und irgendwelche Positionen oder Jobs haben, in denen sie sowieso stark gefordert werden und viel Druck kriegen. Die gehen dann abends gerne zum Power Yoga, um noch den letzten Rest zu geben. Genau die bräuchten aber eher Yin, den Gegenpol. Oder anders herum gibt es auch Menschen, die recht träge sind und nicht so richtig in die Gänge kommen, die fühlen sich im Yin sehr wohl, sollten sich aber eher mal an das andere heranwagen.
Einfach mal das Gegenteil ausprobieren und schauen, was das mit der eigenen Energie macht, wie fühlt man sich währenddessen und auch hinterher? Nicht nur auf den eingetretenen Wegen laufen, es gibt rechts und links noch mehr Möglichkeiten, da kann man auch mal hinschauen. Das finde ich ganz wichtig. Manche sagen: “Ach, beim Yin Yoga passiert ja nicht viel, das ist mir zu langweilig.” Diese Langeweile kann man aber gerne mal zulassen und schauen, was dahinter steckt. Dabei kann man unglaublich viel über sich selber lernen.