Christa Müller forscht seit vielen Jahren zu nachhaltigen Lebensstilen und setzt sich für eine ökologisch und sozialverträgliche Ökonomie ein. Die Soziologin diagnostiziert ein neues Verständnis von Urbanität in westlichen Großstädten und fördert als Geschäftsführerin der Stiftungsgemeinschaft anstiftung & ertomis regionale Netzwerke. Als Autorin und Herausgeberin des Buches „Urban Gardening“ beschreibt sie die Rückkehr der Gärten in die Stadt. evidero-Autor David Vehreschild traf Dr. Christa Müller zum Interview.
In Ihrem Buch beschäftigen sie sich mit dem Phänomen des „Urban Gardening“. Was kann man sich unter diesem Begriff vorstellen?
Das „Urbane Gärtnern“ fasst unterschiedliche Formen zusammen, wie Stadtbewohner ihren Lebensraum neu entdecken, indem sie dort Pflanzen, Obst und Gemüse anbauen. Denn Städte bieten viele Anbauflächen, die bisher meist ungenutzt geblieben sind. Das kann das Dach des Hauses sein, wo man seinen eigenen Salat anbaut. Das kann aber auch im großen Stil geschehen, z.B. indem städtische Abrissflächen umfunktioniert werden und Menschen dort Beete und kleine Äcker anlegen.
Eine Stadt der Zukunft, getragen durch „Urban Gardening“ scheint etwas utopisch?
Das Ziel urbaner Gärtner ist ja keine radikale Neustrukturierung, es geht nicht darum, eine Stadt zu 100% vom eigenen Territorium zu ernähren. Sie können aber wichtige Impulse für den Aufbau einer grünen Stadt liefern, an deren Gestaltung ihre Bürger teilhaben. Und sie können mögliche Klimaanpassungsstrategien für die Stadt der Zukunft aufzeigen. Urban Gardening ist aber auch nur ein Teil unter einer Vielzahl von ökologischen, künstlerischen und politischen Aktivitäten, unter deren Dachorganisation beispielsweise auch die Transition Town-Bewegung gehört oder Gruppen, die sich mit dem Thema „Peak Oil“ beschäftigen. Auch das sogenannte Guerilla-Gardening – die heimliche Aussaat als Form des politischen Protests und zivilen Ungehorsams – gehört dazu. All diese Player sind Teil einer sehr bunten, sehr lebendigen, urbanen Bewegung.
Was sind denn die Motive der Menschen, mit Hacke und Schaufel ihre Umgebung zu verändern?
In großen Teilen der Bevölkerung und gerade in der Stadtbevölkerung wächst der Wunsch nach einer Lebensmittelproduktion, die mit der Natur kooperiert, anstatt sie auszubeuten. Es geht darum, weniger und anders zu konsumieren und gleichzeitig aus diesem „Weniger“ an Konsum ein „Mehr“ an Lebensqualität zu ziehen, weil das Selbermachen eine ganz neue Rolle spielt.
Meinen Sie ein Zurückerobern von Wissen und Fähigkeiten, die eigentlich keine Rolle mehr spielen für moderne Stadtbewohner?
Die Bewegung ist vergleichbar mit einer Hackerbewegung, die versucht, gemeinschaftlich die Schaltpläne der Industrieproduktion zu hacken, um sich die Produkte wirklich anzueignen und dadurch wieder ein selbstbestimmteres Leben unabhängig von den Gesetzen des Konsums führen zu können. Diese Wiederentdeckung des Handwerks, das in der industriellen Gesellschaft sehr vernachlässigt wurde, trägt auch zur Persönlichkeitsentwicklung bei: Die Menschen erfahren sich ganz neu, indem sie den Konsumentenstatus verlassen, der sie in gewisser Weise auch entwürdigt. Denn unsere geistigen und haptischen Fähigkeiten gehen weit über die des Konsumierens hinaus, also einfach nur in einen Laden gehen und dort ein paar Geldscheine auf den Tisch legen.
Die kritische Haltung gegenüber Konsum und Entfremdung – ist sie all diesen grünen Gruppierungen gemein?
Eine politisch und gesellschaftlich kritische Haltung haben alle grünen Bewegungen mit Sicherheit gemeinsam, sie äußert sich aber auf unterschiedliche Weise. Während die einen verändern wollen, indem sie bei ihrem Lebenswandel ansetzen, intervenieren andere mit Guerilla Gardening im öffentlichen Raum. Man will darauf aufmerksam machen, dass der öffentliche Raum ein Lebensraum für Menschen und Natur ist und dass die Menschen auch hier Natur begegnen wollen. Guerilla Gardening ist eine Protestaktion gegen eine Stadtplanung, die für die Natur in der Stadt nicht besonders viel Raum zur Verfügung stellt, sondern sehr viel mehr die Mobilität in den Vordergrund stellt und Platz schafft für eine Ökonomie, die dem Menschen möglicherweise schon lange nicht mehr so dient, wie sie es sollte und könnte.
Sie sprechen in Bezug auf Urban Gardening auch von sozialen und kulturellen Benefits. Was meinen Sie damit?
Das Gärtnern bietet natürlich eine tolle Gelegenheit, eine Community herzustellen. Menschen begegnen sich in den Gärten, tauschen sich aus und tragen gemeinsam dazu bei, einen Ort zu verändern. Und gerade in der Migrationsbevölkerung gibt es viele Menschen, die viel über Saatgut-Produktion wissen und biologische Anbaumethoden kennen. So kommt ganz viel unterschiedliches Wissen an einem Ort zusammen und kann fruchtbar gemacht werden. All diese gebündelten Fähigkeiten sind wichtig, um eine verdichtete Stadt gemeinsam zu gestalten und um Stadtentwicklungen mitzubestimmen.
Ein solches Umfunktionieren von Flächen bedeutet aber auch, dass die Städte kooperieren und ihr Einverständnis zu deren Nutzung geben müssen.
Die Flächenfrage ist sicherlich gerade in wachsenden Städten ein sehr zentrales Problem. Hier ist es oft eine Frage des politischen Willens, ob eine Stadt bewusst Flächen für die Erfahrung von Natur zur Verfügung stellt, oder ob die Stadtverwaltung eher auf Verdichtung setzt und kommerziellen Anbietern den Vorrang gibt. In schrumpfenden Städten wird Urban Gardening dagegen oft als Möglichkeit wahrgenommen, durch Abriss entstandene Flächen neu zu nutzen. Stadtverwaltungen ergreifen so die Chance, eine zukunftsorientierte, grüne Stadt aufzubauen.
Viele Menschen glauben, dass Urban Gardening, Transition Town und Co. nur ein vorübergehender Trend sind. Wie schätzen Sie die Entwicklung ein?
Gerade in der Stadtbevölkerung wächst eine Sensibilisierung für nachhaltige Produkte. Viele Menschen wünschen sich eine Rückkehr zum Leben in Kooperation mit der Natur. Momentan repräsentiert die Bewegung weitestgehend eine politische Haltung, aber mit Sicherheit ist der Erfolg der Bewegung auch von äußeren, zum Beispiel wirtschaftlichen Entwicklungen abhängig. Es hängt davon ab, wie sich der Ölpreis, wie sich insgesamt der Zugriff auf die Ressourcen der Welt entwickelt.
Frau Müller, wir danken für das Gespräch!
Weiterführende Informationen:
http://www.anstiftung-ertomis.de/
Die Fragen stellte: David Vehreschild