Das Printmagazin rund um das Thema Achtsamkeit: “moment by moment – lebendig.achtsam.sein!” Der Titel richtet sich seit 2017 sowohl an Anfänger als auch an fortgeschrittene Praktizierende und handelt von den Potenzialen der Achtsamkeit in allen Bereichen unseres Lebens. Das Magazin kann uns als spannender Wegweiser dienen und ganz praktisch und in der Tiefe vermitteln, wie Achtsamkeit in unser tägliches Leben einfließen kann.
Stefanie Hammer, Herausgeberin von moment by moment, kommt selbst mitten aus der Szene. Sie praktiziert seit zwei Jahrzehnten Achtsamkeit und hat viel Zeit in buddhistischen Klöstern wie zum Beispiel der Theravada-und Dzogchen-Tradition und mit wunderbaren Lehrern wie Akiñcano Marc Weber sowie Chökyi Nyima Rinpoche verbracht.
Um den Traum von einem Achtsamkeitsmagazin zu verwirklichen, hat sie all ihre Leidenschaft als Praktizierende und ihr Know-how als Medienprofi eingebracht und im Oktober 2016 die erste Ausgabe von moment by moment an den Start gebracht.
In der aktuellen zweiten Ausgabe des Magazins finden wir ihr Interview mit dem Begründer der Achtsamkeitsbewegung und Geheimstar des Silicon Valley Jon Kabat-Zinn. Wir geben einen Einblick in das exklusive Interview und einen Ausblick auf weitere spannende Themen im Heft.
Wir sind nicht wirklich in unserem Körper, verlieren uns in der Zukunft oder der Vergangenheit, ständig am Denken, Denken, Denken. – Jon Kabat-Zinn
moment by moment: Jon, was ist die Essenz, das Herz der Achtsamkeit für dich?
Jon Kabat-Zinn: Das Herz der Achtsamkeit ist für mich die Entdeckung und Kultivierung der Verbundenheit mit dem, was das Beste und Tiefste in uns Menschen ist. Ich sehe die Menschheit und das stufenweise Erblühen unseres Potenzials sowohl zu Weisheit und Wohlbefinden als auch zur Meisterung unserer gewalttätigen Tendenzen aus der evolutionären Perspektive.
Als Spezies entwickeln wir uns immer noch biologisch, und nun auch kulturell sowie sozial, und das ziemlich rasch, zumindest relativ gesehen. Unsere Spezies ist im Grunde nicht so alt. Die Menschheit ist die dünnste, oberste Schicht im Grand Canyon der geologischen und biologischen Zeit.
Historisch gesehen ist die letzte Eiszeit gerade einmal 10.000 Jahre her, die Zeit also, in der wir uns stufenweise von der Jäger-und-Sammler- zur Ackerbau- und dann zur urbanen Gesellschaft bewegt haben. Es ist gar nicht so viele Generationen her, vielleicht 300 bis 400, seit wir aus den Höhlen kamen.
Unsere soziale und kulturelle Evolution und nun die immer schneller werdende digitale, technologische Revolution treiben uns an, zu entdecken, welches das Potenzial für unser Leben auf diesem Planeten ist, wenn wir überleben und gedeihen wollen. Und ich spreche nicht nur von unserem individuellen, sondern ebenso von unserem gemeinschaftlichen Leben und dem Leben mit diesem Planeten, der unsere Heimat ist.
Wir sind eine sehr intelligente Spezies. Wir erfinden Computer, iPhones, das Internet, Atomwaffen. Unsere Fabriken, unsere Geschäftigkeit hat dazu geführt, dass wir die Atmosphäre mit Kohlendioxid und anderen Giftstoffen verunreinigen – bis zu dem Punkt, an dem wir unserem Planeten tatsächlich Fieber bescheren und vielleicht bald, wenn es nicht schon geschehen ist, eine steigende globale Erwärmung hervorrufen.
Aber nicht alle sind gewillt, anzuerkennen, dass fast alle Klimaforscher darin übereinstimmen, dass es sich hierbei um ein sehr reales Phänomen handelt, das eine sofortige Veränderung in unserem kollektiven und individuellen Verhalten erfordert. Wenn man es medizinisch betrachtet, spielen wir als Spezies so etwas wie die Rolle der Autoimmunkrankheit der Erde.
Wir müssen aufwachen, unsere eigene Ignoranz erkennen, unser Verhalten ändern und darauf achten, dass nicht Hass und Täuschung unsere Entscheidungen dominieren. Wir müssen auch lernen, wie wir miteinander leben können, ohne uns phasenweise gegenseitig in großer Anzahl umzubringen und unendlich sinnloses Leid zu erzeugen, bevor wir Freunde werden können.
Krieg ist wirklich überflüssig und pures Gift für unsere Zukunft. Steinzeit-Gehirne und Atomwaffen, das trägt einfach nicht zum Wohl der Menschen und aller anderen Lebewesen und des Planeten bei.
Das steht also auf dem Spiel. Für mich ist Achtsamkeit – nicht nur das Wort, sondern die darunter- und dahinterliegende Praxis der Achtsamkeit – der Weg zur Evolution unserer inneren Weisheit.
Es ist der Weg, um zu erkennen, wie wir weise Entscheidungen treffen, die das Wohl auf globaler Ebene mehren und das Potenzial zu Gewalt und Leid, zu dem wir als sehr, sehr intelligente, aber auch sehr, sehr unbewusste Spezies fähig sind, minimieren. In anderen Worten, wir versuchen das Unwohlsein (dis-ease) und die Krankheit (disease), die daraus entsteht, auf individueller und kollektiver bis hin zur planetaren Ebene zu heilen, indem wir auf Basis der Kultivierung von Achtsamkeit und Herzlichkeit (heartfulness) arbeiten – Aspekte des universellen Dharmas, die heute nötiger denn je sind.
Wir haben uns selbst den Namen Homo sapiens sapiens gegeben. Das lateinische Verb sapere bedeutet ‚schmecken‘ und ‚wissen‘. Das bedeutet: ‚die Spezies, die weiß und weiß, dass sie weiß‘. Das bezieht sich nicht auf das rein konzeptuelle, kognitive Wissen, auf das, was wir durch Denken ‚wissen‘, so wunderbar das Denken auch manchmal sein mag. Es ist vielmehr eine tiefere Art menschlichen Wissens, für das wir im Englischen das Wort awareness – Gewahrsein – haben.
Bei diesem Wissen weiß man um Dinge und Zusammenhänge, doch es hat auch eine eigene Integrität, ein reines Gewahrsein unabhängig von materiellen Objekten. Und es ist bereits in unserer menschlichen Natur, ist in unsere DNA eingebaut. Wir müssen es nicht erwerben, wir müssen nur eine bessere Beziehung dazu entwickeln. Der direkteste Weg dorthin ist die Meditationspraxis.
Doch die Dinge haben sich so sehr in eine Richtung entwickelt, in der wir im Denken, in unseren Gedanken verfangen sind, dass wir diesen anderen Aspekt von uns nie richtig entwickelt haben. Die Meditationspraxis, in Sanskrit bhavana, bedeutet Kultivierung im Sinne von Entwicklung.
Das ist genau die Art von innerlicher Kultivierung, die wir brauchen, um unserem Namen Homo sapiens gerecht zu werden als die Spezies, die sich ihrer gewahr ist und weiß, dass sie dies ist, die in jedem Moment Entscheidungen treffen kann, welche das Wohl mehren und das Leid, die Gewalt und, ehrlich gesagt, die Dummheit mindern. Manchmal wissen wir etwas kognitiv oder intuitiv besser, aber wir haben uns emotional nicht genügend entwickelt, um uns von bestimmten Ansichten und Reaktionen zurückzuhalten, die Gewalt und Leid für andere und uns selbst erzeugen.
moment by moment: Wie können wir sicherstellen, dass Achtsamkeit richtig vermittelt wird? Oft wird sie durch einen anderen Kontext oder andere Lehren verwässert und verändert. Du hast einmal gesagt: „Wenn etwas viral geht, dann wird es üblicherweise stark vereinfacht und verzerrt, bis es nicht mehr zu erkennen ist.“ Wie können wir das bezüglich Achtsamkeit verhindern?
Das hab ich gesagt? (lacht) Ich weiß die Antwort darauf nicht. Ich denke, Leute wie ihr werden das zu verhindern wissen – dadurch, so spüre ich es hoffentlich zu Recht, wie ihr euer eigenes Leben zu leben versucht. Ich nehme an, auch wenn ich euch gerade erst kennengelernt und von eurer Arbeit gehört habe, dass eure Werte in Einklang damit sind, worüber wir hier reden, und dass ihr durch die ühzeitige Berührung mit Achtsamkeit etwas erfahren habt, das in euch weiterwirkt und die Art transformiert hat, wie ihr eure Arbeit macht, wie ihr als Eltern seid, wie ihr in der Welt lebt. Ich sehe das überall auf meinen Rei- sen. Und bis jetzt habe ich persönlich nicht zu viel von einer verfälschten oder unausgereiften Form der Achtsamkeitspraxis mitbekommen, worum sich so viele sorgen. Ganz im Gegenteil, zumindest in der Welt der MBSR-Lehrer, die isch aus ihrer Ausbildung im Center for Mindfulness (Massachusetts, USA) und seinen Zweigstellen auf der ganzen Welt kommen, sehe ich – und ich sage nicht, dass ich das gesamte Bild erkenne – Menschen, deren Leben authentisch durch die intensive Kultivierung von Achtsamkeit als eine Tür in das universelle Dharma* transformiert wurde, was sich auch in ihrer Arbeit und ihrem persönlichen Leben ausdrückt.
Bis 1979, als ich die Arbeit begann, die wir achtsamkeitsbasierte Stressreduktion, MBSR (Mindfulness-based Stress Reduction) nennen, war Achtsamkeit als eine Meditationspraxis und eine Art des Lebens nur in traditionellen bud- dhistischen Retreat-Centern und Tempeln zugänglich. Meine Hoffnung zu jener Zeit war, dass sich MBSR, wenn es im University of Massachusetts Medical Center Hospital und dann noch weiter im medizinischen Bereich sowie im Gesundheitssektor Fuß fassen würde, sozusagen auf virale Weise wie ein Computervirus, aber in diesem Fall ein sehr positiver, eine Art Mem (Anm. der Red.: ein Bewusstseinsinhalt in der Mem-Theorie), auszubreiten begänne und sich als wertvoll herausstellen würde, um die Leidenschaft in Menschen zu entfachen, die ganze Bandbreite ihres Potenzials kennenzulernen, zu wachsen, heil zu werden, Stress, Schmerz und Leiden zu transformieren sowie die Fähigkeit zu lieben in ihrem Leben zu verwirklichen – als Zusatz zu einer medizinischen Behandlung, eine Form der Komplementärmedizin, wenn ihr so wollt. Und letztendlich auch, dass die Praxis selbst ein verkörperter Ausdruck ihres Wohlbefindens, ihrer Weisheit und ihrer Liebe würde. Ich denke, genau das ist passiert, es gibt heute nach letztem Stand über 700 MBSR-Programme in Krankenhäusern und Kliniken weltweit – Tendenz steigend.
….