Nicht nur der Handstand lässt Yogaschüler in den siebten Yogi-Himmel schweben. Es ist vor allem ihre innere Haltung, die Yogis ermöglicht, über den Dingen zu stehen – und auch in schwierigen Situationen die Sicht für das Wesentliche zu wahren. Doch was ist dieses Wesentliche und warum wirken Yogis meist so schrecklich gesund und glücklich? Die evidero-Redakteurin und Yogalehrerin Melanie Lotz verrät heute, was bei ihr regelmäßig den Yoga Glow, das berühmte Yoga Strahlen, auslöst.
“Melanie ist von oben bis unten in Bewegung”, sagte neulich eine Yoga Freundin. “Von den Locken bis in die Füße ist alles voller Schwung”. Ich habe ziemlich “geschwungene” Füße, ganz schön ausladend breit und mit einem sehr hohen Fußpann. Man könnte auch Froschfüße dazu sagen. Ich mochte meine Füße lange Zeit nicht, weil sie nicht so süß und zierlich sind wie Mädchenfüße dem Ideal nach sein sollten. Diese neue Sichtweise gefällt mir aber sehr gut: Da ist eben Schwung drin. Energie. Kraft.
In so einer Veränderung der Sichtweise von der Schwäche zur Stärke, vom Mangel zur Fülle und vom Jammern zum Zelebrieren liegt für mich eine der vielen Zauberkräfte von Yoga: Mit der Praxis von diesen teilweise unmöglich erscheinenden Dehn- und Kraftpositionen, aber auch schon mit den einfachsten Körperhaltungen entdecken wir uns selbst und die Welt völlig neu. Was einmal wahr war, erscheint plötzlich völlig überholt. Was unmöglich erschien, trauen wir uns plötzlich zu. Wo wir vorher nur unsere Schwächen gesehen haben, entdecken wir jetzt unsere Superkräfte.
Und fühlen uns plötzlich so mächtig und stark, dass wir auch mal wieder ganz zart und verletzlich sein dürfen. Und vielleicht fühlen wir uns zum ersten Mal überhaupt ohne erkennbaren äußeren Anlass so tief erfüllt und zum Weinen glücklich. All dies habe ich zumindest im Yoga erfahren.
Yoga baut Glücksinseln, auf die wir im Alltag flüchten können
Das heißt nicht, dass wir Yogis nur noch durch die Stürme des Lebens schweben, uns nie wieder über Kleinigkeiten aufregen und diese zu Großigkeiten dramatisieren. Ich kann aus eigener Dramaqueen-Erfahrung berichten: Leider geht das nicht so schnell mit der Erleuchtung. Doch schon jede dieser kleinen Erfahrungen von Einheit und Frieden, diese Mini-Erleuchtungen im Alltag sind so etwas wie Glücksinseln, die uns zeigen: Aha, so kann sich das Leben also auch anfühlen. Mmmmmh, wundervoll.
Ein kleines ABC des Yoga-Glücks
Wundervoll, voller Wunder, so nehme ich die Yogapraxis immer wieder war. Und das liegt nicht nur an der wohltuenden körperlichen Praxis. Die Zauberkraft des Yoga geht weit darüber hinaus. Es ist schwer zu sagen, was genau an Yoga diese magische Wirkung entfaltet – zu unterschiedlich und persönlich ist das, was jeder aus seiner Praxis zieht. Ich persönlich entdecke immer wieder neue kleine oder große Wundermittel im Yoga. Hier die 12 wichtigsten yogischen Praktiken und Sichtweisen, die mein Leben grundlegend geändert haben.
ACHTSAMKEIT – Das Ende vom Pläne schmieden und Sorgen machen
Ich bin eine ziemliche Träumerin – ständig mit den Gedanken woanders. Jeden Tag nehme ich mir aber bewusst einige Momente, beim Fahrradfahren, an der Supermarktkasse, beim Zähneputzen und immer wieder zwischendurch, um mich mal bewusst nur auf das zu konzentrieren, was jetzt gerade passiert.
Alles ganz genau anzuschauen, wie ein neugieriges Kind meine Umgebung zu erforschen, Stimmen und Gerüche wahrzunehmen und auch innerlich zu beobachten, was da alles passiert. Das holt mich sofort runter vom ständigen Pläne schmieden oder Sorgen machen und lässt mich so richtig aufatmen und spüren, was wirklich wichtig ist: Jetzt zu leben, jetzt zu lächeln, jetzt zu genießen. Im Yoga gibt es nur Jetzt, alles andere ist unnötige Gedankenmacherei. Find ich gut.
ATEM – Der Katalysator für unsere Lebensenergie
Haaaaaaaach, ich bin ja ein großer Fan von Seufzen. Am liebsten laut und herzhaft. Seufzen ist Detox für unsere Seele: Es ist erleichternd, spendet Energie und entspannt – und das alles in nur 3 -5 Sekunden!
Überhaupt ist Atmen eine ganz tolle “Erfindung”. In der yogischen Sichtweise transportiert, lenkt, harmonisiert und spendet der Atem prana, Lebensenergie. Die Verbindung von Atmen und Seele spiegelt sich auch in unserer Sprache: Uns stockt der Atem, wir sind atemlos oder atmen auf. Der Atem ist so etwas wie die Autobahn in tiefere Schichten unseres Seins.
Im Yoga lenken wir mit dem Atem unsere Lebensenergie, beruhigen den Geist oder beleben unsere Geister, je nachdem, wie wir es gerade brauchen. Am liebsten atme ich in den Bauch, dann komme ich sofort raus aus dem Kopf und rein in so ein tiefes, sattes Gefühl von Ruhe und Kraft. Mega!
BEWUSSTSEIN – Der innere Beobachter, unser bester Freund
Ich habe lange Zeit das Gefühl gehabt, meinen Gefühlen und Stimmungen hilflos ausgeliefert zu sein. Ich dachte: Meine Gedanken und ich – wir sind Eins, da kann man nichts machen. Gut, wenn man fröhliche Gedanken hat, Pech, wenn man gerade in einer emotionalen Gewitterwolke feststeckt. Bis die Yogaphilosophie mir die Augen öffnete: Wir und unsere Gedanken/Gefühle, das sind zwei Paar Schuhe.
Es gibt etwas in mir drin, nämlich das Bewusstsein, das die Gewitterwolke anschauen und sich bewusst zu einem Schritt in die Sonne entscheiden kann. Vielleicht nicht immer sofort, manchmal tut uns der Regen tut. Doch wir sind den Unwettern unseres Geistes nicht völlig hilflos ausgeliefert. Diese Erkenntnis ist für mich ein innerlicher Befreiungsschlag, der mir viel Selbstvertrauen gibt. All diese jammernden, meckernden, ängstlichen oder leidenden Stimmen des Geistes können mich mal! Heute wird das Leben gefeiert. Ende der Diskussion.
EINHEIT – Ursprünglich ist alles Eins.
Yoga bedeutet Einheit und Verbindung: Das kann unsere Verbindung nach innen sein und die Einheit von Körper, Geist und Seele. Das kann auch die Verbindung nach außen sein: Ich mag die Idee, dass Menschen, Tiere, Pflanzen und alles Lebendige Einzelformen des Lebens sind, die gemeinsam ein harmonisches Ganzes bilden, ähnlich einem Mosaik, in dem jeder Stein gleich wichtig ist.
Manche sprechen da von einem universellen Bewusstsein oder einer universellen Seele, andere von Göttlichkeit oder Gott, dessen Teil wir sind, weil wir einen Teil davon in uns tragen. Gott ist keine Einheit außerhalb von uns, Gott ist in uns und wir sind ein Teil von Gott – schöner Gedanke, nicht?
Wem Gott trotzdem zu abstrakt ist: In meiner Vorstellung sind wir ganz schlicht verbunden durch das Leben, das in uns pulsiert. Und damit sind wir auch verbunden durch den Wunsch, zu lieben, geliebt zu werden und glücklich zu sein. Was auch immer jemand tut, dient diesem Ziel, wie doof wir dessen Strategie im Einzelfall auch finden mögen. Der Gedanke hilft mir, mit mehr Wärme und Toleranz auf die Welt blicken. Nicht immer, aber immer öfter.
FREUDE – Der Stoff, aus dem wir gemacht sind
Unser Bewusstsein, das manche Seele nennen, manche das “Sehende”, das “Göttliche” oder das “Licht” in uns, macht den wesentlichen Kern unserer Existenz aus. Dieser Kern ist beim Menschen “eingepackt” in fünf Körper oder Hüllen: Pancha Kosha. Die äußerste Kosha ist unser physischer Körper. Darunter liegen der Energiekörper, der Geisteskörper, der Intellektkörper und darunter schließlich mein Lieblingskörper: Die Wonnehülle!!! Ist das zu fassen? In der yogischen Sichtweise ist Freude der Stoff, aus dem wir gemacht sind! Das Glück steckt in uns drin, es ist ein Teil von uns! Ich finde, dem ist nichts mehr hinzuzufügen.
GEIST – Die vermeintliche Stimme der Vernunft
Der Geist, citta, kommt im Yoga nicht besonders gut weg. Irgendwie ist der Geist, das unstete Ding, so ziemlich schuld für so ziemlich all unser Leid. Das tut mir ein bisschen Leid. Er meint es nur gut mit all seinen Warnungen, Einschätzungen, Plänen und Ängsten. Doch es ist schon ganz richtig: Wir sollten citta vritti, die stürmischen Wellen des Geistes, nicht immer so ernst nehmen.
Eine der revolutionärsten Erkenntnisse meines Yogaweges: Wir sind nicht, was wir denken und fühlen. Und auch das Leben ist nicht immer das, was der Geist uns vorgaukelt. Egal also, was der Geist uns einflüstern möchte: Wir sind gut genug. Wir haben es verdient, glücklich zu sein. Wir müssen um Liebe nicht kämpfen. Es ist viel mehr möglich, als wir uns vorstellen können. Es lohnt sich, auf das Herz zu hören.
Doch wir sollten unseren Geist trotzdem liebhaben. Er sorgt dafür, dass wir die Steuererklärung machen. Und hin und wieder an die Rente denken, für die wir zusätzlich vorsorgen sollten. Nur zur Sicherheit. Und nur falls es mit der Erleuchtung bis dahin nicht klappen sollte.
HINGABE – Das Ur-Vertrauen ins Leben
Hingabe. Haaach, da seufzt es romantisch in mir. Bilder aus Dirty Dancing blitzen in meinem Kopf auf. Im Yoga geben wir uns natürlich nicht Jonny, dem Tanzlehrer hin. Oder doch, ein bisschen schon. Wenn mit Jonny metaphorisch plötzlich das pralle Leben vor uns steht, dann können wir uns entweder ängstlich zurückziehen und über all die Risiken nachdenken, die es in sich birgt, dem Herzen zu folgen. Oder wir können den Tanz mit dem Leben wagen.
Sich hingeben heißt manchmal eben auch, dass wir unsere festen Vorstellungen, Ängste und Widerstände aufgeben – und uns dem ergeben, was ist. Das bedeutet nicht, dass wir uns sehenden Auges ins Unglück stürzen müssen. Es bedeutet, dass wir uns für unser Glück öffnen und zugreifen sollten, wenn es vor uns steht. Und auch dann offen bleiben sollten, wenn das Leben uns nicht immer (gleich) schenkt, was wir uns wünschen. Es wird alles gut. Und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende.
Dieses Ur-Vertrauen ins Leben drückt das Yogasutra in “Ishvara Pranidhana” (Hinhabe an Gott) aus. Der Kölner sagt es so: “Et is, wie et is. Un et hätt noch immer joot jejange.”
LOSLASSEN – Das Glück kommt, wenn wir es nicht erwarten
Loslassen, davon wird im Yoga häufig gesprochen. Spannungen, negative Gedanken, Ballast – alles soll losgelassen werden. Ich habe mich lange gefragt, wie das genau gehen soll. Das ist ja genau das Problem von Verspannungen, Schmerzen und Co, dass sie nicht einfach verschwinden, wenn wir das möchten.
Für mich bedeutet Loslassen heute vor allem dies: Die Idee loszulassen, dass wir immer gleich glücklich sein müssen. Dass wir niemals Schmerzen haben dürfen. Dass es uns nie schlecht gehen darf. Das Leben ist kein Ponyhof. Wenn wir das wirklich mit ganzem Herzen akzeptieren, sind wir schon einige wesentliche Krämpfe im Kopf los. Loslassen bedeutet im ersten Schritt: Annehmen, was ist. Alles bewusst zu spüren, auch den unangenehmen Seiten in uns liebevolle Aufmerksamkeit zu schenken.
LIEBE – Die warmherzige Sichtweise auf die Welt
Mit der Yogapraxis machen wir immer auch ein bisschen Liebe mit uns selbst – und je hemmungsloser wir dabei sind, desto mehr Liebe und Empathie haben wir auch für die Welt um uns herum. Love more, fear less. Float more, steer less.
NAMASTÉ – Die Wertschätzung des Lebens
Namaste ist unter Hindus ein Gruß, der auf mehreren Ebenen Respekt und den Wunsch nach Verbindung ausdrückt. Wörtlich übersetzt heißt es “Verehrung dir”. Es gibt eine beliebte Deutungsweise des Grußes, die uns daran erinnert, dass wir im Wesentlichen alle Teil einer Einheit sind, die größer ist als wir selbst:
Das Licht in mir verneigt sich vor dem Licht in dir. / Das Göttliche in mir verneigt sich vor dem Göttlichen in dir.
Anstatt, wie unser Geist es so gerne tut, die Unterschiede und das Trennende zwischen uns hervorzuheben, führen wir unsere Hände vor dem Herz zusammen und verneigen uns vor dem, was uns verbindet: Das Kostbare in dem anderen spiegelt das Kostbare in uns selbst. Die Idee uns selbst als etwas Wertvolles und Strahlendes zu begreifen, kann sehr heilend sein und grundlegend verändern, wie wir die Welt wahrnehmen: Wenn ich selber strahle, strahlt die Welt zurück. In diesem Sinne: Namasté.
NEVER GIVE UP, ALWAYS LET GO: Der Weg ist das Ziel
Abhyasa (Disziplin, Übung) und Vairagya (Loslassen): Yoga lehrt uns die Disziplin des Übens, ohne uns an den Erfolg zu hängen. Nicht das Ziel ist wichtig, sondern was wir beim Üben erleben und über uns selbst lernen. “Yoga is not about touching your toes. It’s about what you learn on the way down”.
Yoga lehrt uns, zu erkennen, dass jeder Tag unterschiedlich ist, dass WIR jeden Tag anders sind und andere Bedürfnisse haben. Wir glauben vielleicht, dass wir jeden Tag gleich fit sein und gleich funktionieren müssen. Yoga lehrt uns, dass wir gar nicht funktionieren müssen. Weil wir perfekt sind, so unperfekt wie wir sind. Und weil es um das Leben und Erleben geht, nicht um das Erreichen von oberflächlichen Zielen.
Yoga ist nicht nur gut für einen Knackpo: Die indische Philosophie ist vor allem eine geistige Disziplin für Selbsterkenntnis.
WERTFREIES WAHRNEHMEN: Die Wunderwaffe für mehr seelisches Gleichgewicht
Analysen, Vergleiche, Bewertungen, Urteile – alles Fähigkeiten unseres Geistes, die wir für furchtbar wichtig und sogar für ein Zeichen von Klugheit halten. Aus Yogasicht sind es Werkzeuge des Unglücks: Was wir über uns selbst und unser Umfeld denken, löst Gefühle in uns aus, die uns zum Teil schrecklich viel Energie in der Verarbeitung kosten. Meist völlig unnötig: Der Geist hat eine eingeschränkte Sichtweise und tappt meist völlig im Dunkeln.
Licht ins Dunkle bringt nur unser Bewusstsein. Den inneren Beobachter, das Auge unseres Bewusstseins, haben wir schon kennen gelernt. Das wertfreie Wahrnehmen ist die Wunderwaffe unseres inneren Zeugen, wie der Beobachter auch genannt wird: Ohne Urteil nimmt er wahr, was passiert. Wenn wir in den Modus des wertfreien Wahrnehmens wechseln, können wir uns immer mehr des üblichen emotionalen Dramas ersparen und uns stattdessen gemütlich zurücklehnen und gelassen lächeln.
Was gehört zu deinem Yoga-Glück-ABC?
Mein kleines Yoga-ABC hat keinen Anspruch auf Vollständigkeit: Wenn dir eine inspirierende yogische Idee fehlt, lass es uns gerne in den Kommentaren wissen.