Im ersten Teil zum positiven oder gesunden Egoismus haben wir erfahren, dass es notwendig ist, sich selbst zu lieben, um den anderen lieben zu können, und dass dazu auch gehört, authentisch nein zu sagen. Heute erklärt Regina Först, wann wir aufpassen müssen, dass aus positivem Egoismus kein negativer wird.
Ich finde die Aussage “Wenn jeder an sich denkt, ist an alle gedacht” ganz großartig, auch wenn sie bei manchen vermutlich sauer aufstoßen wird. Das liegt am schon erwähnten Tunnelblick. Aber sehen wir uns den Satz doch mal genauer an. Steht da irgendetwas davon, dass wir ausschließlich an uns selbst denken? Oder dass wir an andere keinen Gedanken verschwenden? Nein! Wieso interpretieren wir es dann hinein?
An sich selbst denken bedeutet, sich selbst zu lieben
Wenn Sie zu einem Kind gehen und fragen: “Was findest du toll an dir?”, dann müssen Sie sich für die Antwort lange Zeit nehmen, weil es so viel zu erzählen hat. Ja, ganz am Anfang unseres Lebens denken wir, wie schon erwähnt, zuallererst an uns und finden uns meistens gut.
Natürlich denken wir dann auch an die anderen, an Mama und Papa, an die Großeltern, die Freunde und so weiter. Erst ich, dann du – also in der richtigen Reihenfolge. Doch im Laufe der Zeit lernen wir ganz schnell von den „Großen“, dass es “Peter und ich” heißt, und nicht “Ich und Peter”. Zwar als Höflichkeitsfloskel gemeint, wirkt sich jedoch der Hintergedanke auf Dauer sehr problematisch aus. Denn wenn ich immer den anderen an die erste Stelle setze, vernachlässige ich unter Umständen meine eigenen Bedürfnisse.
Doch wie wir ja schon festgestellt haben: Ich kann dem anderen nur helfen und ihn lieben, wenn ich mich selbst liebe. Ich muss also selbstbewusst sein, das bedeutet: meiner selbst bewusst sein. Wer bin ich eigentlich? Was möchte ich eigentlich? Wenn ich das weiß und jemand anderes will etwas von mir, dann entscheide ich für mich: Kann ich das, möchte ich das? Diese Klarheit kommt allen zugute. Sie ermöglicht eine aufrichtige Kommunikation und schafft Vertrauen in Menschen und in die Sache.
Positiver Egoismus vs. Negativer Egoismus
Fragen wir uns nun einmal: Wo liegt denn die Grenze zwischen positivem und negativem Egoismus? Dazu muss die eigene Motivation hinterfragt werden: Will ich nett sein und ganz charmant Menschen manipulieren und dazu bringen, Dinge zu tun, die sie gar nicht möchten? Weil ich nämlich so gefragt habe, dass ein Nein gar nicht möglich ist? („Frau XY, Sie machen das immer so toll, dass nur Sie die Sache hinkriegen können, das ist doch wohl klar“ – so oder ähnlich).
Aber Achtung: Da spricht dann definitiv das negative Ego und ich bewege mich auf der falschen Seite der Egoismus-Medaille. Denn dieses Ego will immer die Macht haben, andere klein machen, sich selber größer fühlen, oder es sucht nur den eigenen Vorteil.
Positiver Egoismus hingegen ist immer klar und fair und hegt darunter keine anderen Ziele. Auf diesen Unterschied zu achten, ist oft jedoch eine Herausforderung, denn meist passieren solche Dinge unbewusst. Hirnforscher vermuten, dass nur 5% unserer Handlungen bewusst geschehen.
Es kann also auch passieren, dass ich denke, alles sei in Ordnung, und muss dann feststellen: Mist, das ist es doch nicht. Schenkt zum Beispiel jemand seinem Kind eine Musikanlage und zwei Tage später räumt es – trotz klarer Absprache – die Spülmaschine nicht aus, denkt oder sagt der edle Spender: „Ich schenke dir eine teure Musikanlage und du kannst noch nicht mal den Geschirrspüler ausräumen.“ Was ist da passiert? Der, der schenkte, tat dies nicht allein aus Freude und uneigennützigen Gründen, sondern hat heimlich eine Erwartung daran geknüpft!
Also: Immer wach und aufmerksam sein, was die eigene Motivation angeht. Mache ich etwas, weil ich einen Vorteil für mich erhoffe? Dann ist das der falsche Egoismus.
Vom Ich zum Du zum Wir
Ganz wichtig: Ich plädiere keineswegs für eine Ich-Gesellschaft. Aber das Ich ist der erste und der wichtigste Schritt zum Wir! Anders ausgedrückt geht die richtige und gesunde Richtung vom ICH zum DU zum WIR. Dann hat das Wir feste Wurzeln.
Wie sieht das aus? Nehmen wir zum Beispiel einen Fußballspieler: Er muss sich seiner eigenen Stärken und seines Könnens bewusst sein (ICH), um im Team spielen zu können. Und wenn er einen Ball zugespielt bekommt, kann er nicht einfach sagen: „Nö, den nehme ich nicht an.“ Er spielt ihn, gibt ihn vielleicht auch an einen anderen Spieler in noch idealerer Position ab (DU) und setzt sich so für das Team ein (WIR), und vielleicht springt sogar ein Tor dabei raus.
Was beim Spiel im Team funktioniert, kann ebenso in der Familie, im Beruf, im allgemeinen Miteinander umgesetzt werden. Das Wir fördern heißt auch, die Gesellschaft zu unterstützen, in der wir leben.
Wer an sich selbst denkt, denkt auch an die anderen
Und damit kommen wir in den Bereich der Moralvorstellungen. Ich selbst bin davon überzeugt, dass wir alle verantwortlich sind für diese Erde. Dieses Menschenbild besagt: Wer Frieden will, muss Frieden sein, und wer Wachstum will, muss selbst innerlich wachsen.
Leider sehen das sehr viele immer noch nicht so, sonst würden nicht weltweit immer wieder politische Konflikte versteckt aufglimmen und/oder die Umwelt kaum so ausgenutzt werden, wie es nun mal mit einer negativen Egozentrik geschieht. Mein Ideal ist deshalb der positive Egoist. Einer, der gelernt hat, sich selbst zu lieben, um alle anderen Geschöpfe zu lieben, und aus dieser Grundlage heraus Verantwortung übernimmt für alles, was sein Leben ausmacht. Dieser Wandel hat zum Glück bereits begonnen!
Positiver Egoismus ist die Grundlage für Teamgeist
Auch in der Wirtschaft findet mehr und mehr ein Umdenken statt. Früher habe ich in meinen Business-Seminaren vor allem mit Angestellten aus den mittleren Ebenen gearbeitet, meist mit Frauen. Die Männer in den oberen Führungspositionen hatten es zunächst schwer, sich vorzustellen, dass die sogenannten Softskills einen entscheidenden Unterschied für Erfolg ausmachen.
Doch der Fachkräftemangel, die hohe Burnout-Rate und die immer öfter einsetzende eigene Überforderung lassen viele auf Kurskorrektur gehen. In diesem Zusammenhang ist bedeutend: Ich erlebe mehr und mehr, dass auch diese Menschen innerlich verhungern, weil sie zu negativen Egoisten und regelrechten Fachidioten erzogen wurden, was auf Dauer keine innere Befriedigung bringt.
Man stelle sich vor: In manchen Firmen existieren Accesment-Center, in denen den besten Mitarbeitern gesagt wird: “Du bist moralisch zu gut aufgestellt, du bist zu empathisch, du hast ja gar kein Messer in der Tasche – durchgefallen!” Was sagt das über unsere Gesellschaft und unsere Wirtschaft aus?
Doch auch hier ist bereits ein Umschwung zu bemerken, denn durch den schon erwähnten Fachkräftemangel müssen sich Mitarbeiter das nicht mehr so einfach gefallen lassen. Es passiert also was – und das ist auch dringend nötig! Denn das höchste Gut im Unternehmen sind die Menschen. Wer sich das nicht klarmacht, nicht wertschätzend und respektvoll mit ihnen umgeht, wird bald alleine dastehen. Die jetzige Arbeitnehmer-Marktlage weist das ja schon deutlich aus. Unternehmen bewerben sich um Fachkräfte – und nicht umgekehrt.
Ich-Stärkung fürs Unternehmen
Dieses Prinzip ist auch auf Firmen und Unternehmen übertragbar. In meinen Vorträgen und Seminaren für Führungskräfte und Mitarbeiter stelle ich immer wieder fest: Menschen, die in sich selbst verwurzelt sind, die wissen, was sie können und selbstbewusst mit ihren Fähigkeiten umgehen, gehen offen in ein Feedback-Gespräch, suchen es vielleicht sogar und gehen mit Kritik konstruktiv um.
Andere wiederum sagen: „Oh Gott, ein Feedback-Gespräch, jetzt gibt es bestimmt wieder einen Anpfiff.“ Wer, glauben Sie, bringt dem Unternehmen wohl mehr? Die Selbstbewussten geben in einem Meeting oder einer Team-Arbeit ihr Know-how gerne weiter – ohne Angst, dass ihnen die Idee gestohlen wird. Sie stehen für sich selbst ein, ohne gegen andere zu kämpfen.
Unternehmen sollten also hier ansetzen: die Stärken der Mitarbeiter fördern und vor allem anerkennen, anstatt die Mitarbeiter zu unterdrücken oder kleinzuhalten. Spürbar verändert sich dann das Betriebsklima, die Leute werden offener und haben mehr Lust, zur Arbeit zu kommen.
Ich höre immer wieder, dass sich Mitarbeiter dann plötzlich nicht mehr bis Samstag haben krankschreiben lassen, sondern nur bis Mittwoch. Das heißt: Menschen lassen sich von außen nicht motivieren – die Motivation liegt genau wie das Glück in ihnen verborgen. Diese Motivation kann geweckt werden, wenn man entsprechend auf den Menschen eingeht. Wenn jeder ein positiver Egoist ist, kann das schon reichen, um ein Unternehmen wieder nach vorn zu bringen.
Wie finde ich das richtige Maß an Egoismus?
Um sich selber besser zu verstehen und einen gesunden Egoismus zu entwickeln, berücksichtigen Sie folgende Tipps:
- Nicht zu schnell antworten, wenn jemand einen Wunsch an Sie hat.
- Öfter mal still bleiben. Es gibt zwei Ohren, aber nur einen Mund. Stimmt’s?
- Immer in sich hineinfühlen: Kann ich geben, ohne dass ich dafür etwas haben will?
- Morgens auf der Bettkante sitzen bleiben und sich überlegen: Was kann ich mir heute Gutes tun?
- Nicht immer gefallen wollen!
- Führen Sie ein Glücks-Tagebuch. Schreiben Sie auf, wobei Sie tagsüber Glück empfunden haben, und wann Sie gesagt haben, was Sie sagen wollten und nicht, was der andere hören wollte.
- Sich seine Stärken bewusst machen und einsetzen.
Positiven Egoismus kann man trainieren. Fangen Sie besser eher heute als morgen damit an. Sie werden sehen: Anschließend fällt es Ihnen auch leichter, anderen etwas Gutes zu tun!
Aufgezeichnet von: Manuela Hartung