Immer mehr Fitness-Fans haben den Boxsport als Training für sich entdeckt. Als Aktivität ohne Blessuren, die Stress abbaut.
Thilo Sonnes Arbeitstag war mies. So richtig mies. Schon morgens Rushhour-Hektik, Bahn verpasst, zu spät im Büro. Sein Chef ärgerte den Bankkaufmann mit einem dicken Stapel Sonderaufgaben. Und nach zwei anderthalbstündigen Kunden-Meetings war Sonne (der seinen richtigen Namen nicht veröffentlicht sehen will) nur noch platt – und gestresst.
Knapp eine Stunde nach Feierabend steht er nun in Angriffshaltung und nimmt sein Ziel ins Visier. Dann hebt sich sein rechter Arm und seine Faust schnellt vor – genau dahin, wo er es geplant hat. Seine linke Hand folgt und Sonne schlägt erneut zu. Zwei satte Gerade. Schläge wie aus dem Boxer-Bilderbuch.
Sein Gegenüber scheint unbeeindruckt und wehrt sich nicht. Sonne hat einen Sandsack traktiert. Ähnlich geht es seinen 15 Trainingspartnern im Box-Gym am Fühlinger See im Kölner Norden. Sie bewegen sich wie Boxer, schlagen wie Boxer, aber verhauen ausschließlich Sandsäcke, die an Eisenketten von der Decke baumeln.
Boxen ohne Gegner
Die Trainingsgruppe gehört zur immer stärker wachsenden Gemeinde der Fitnessboxer. Deren Motto lautet: Boxen: ja bitte, aber ohne die Schmerzen, die einem ein Gegner zufügen könnte! Und ohne den Milieu-Touch, der dem Boxsport anhaftet. Den Klischees über Türsteher, die Nasen blutig schlagen oder dubiosen Geschäftsleuten mit blau getönten Brillen, die den Boxring umschleichen.
Den Bankkaufmann und Volkswirtschaftler Sonne oder seinen Nebenmann Frank Doll etwa würde man nie mit Boxen in Verbindung bringen. Doll ist Wirtschaftsjournalist und Familienvater; ein Akademiker, der genauso gut Tennis spielen, Laufen oder Golfen könnte. Seine Geschichte, wie er Fitnessboxer wurde, ist typisch für viele andere. Lange Sport-Abstinenz; das Gefühl, etwas tun zu müssen; einerseits vom Boxen fasziniert, andererseits vom Box-Milieu abgestoßen.
Fitness-Boxen ist etwas für Jeden
Als er vor sechs Jahren einen Flyer des Maylifeboxclubs sah, wusste er: „Das muss ich ausprobieren“. Und nun quält er sich regelmäßig durch eine 75 Minuten-Einheit, angepeitscht von den Trainern, den Brüdern Rüdiger und Torsten May. Beide sind langjährige Box-Profis, die nun Normalos wie Sonne oder Doll drillen. Die anderen in der Trainingsgruppe sind Ärzte, Juristen, Schauspieler, kaufmännische Angestellte, Handwerker, Arbeiter. Städtischer Durchschnitt, die meisten Ende 30. Boxen ist als Fitness-Boxen in der Mitte der Gesellschaft angekommen.
Das, was die Hobby-Boxer im Training machen, ist eine Light-Fassung der Profi-Übungspläne inklusive Seilspringen, Zirkeltraining und Schattenboxen:
„Es ist ein Ganzkörpertraining. Es werden von Kopf bis Fuß alle Muskelgruppen trainiert. Das Zusammenspiel der Muskulatur wird gefördert“, schwärmt Rüdiger May von seinem Sport. „Die meisten bemerken an sich eine bessere Körperspannung und ein besseres Körpergefühl“, hat May beobachtet. Selbstbewusster und gelassener seien sie geworden, erzählen einige aus der Trainingsgruppe, speziell bei Auseinandersetzungen. „Fitnessboxen ist auch ein Konflikttraining“, beschreibt es Rüdiger May.
Auspowern zum Stressabbau
Oder auch ein Stress-Killer. Den Ärger mit dem Chef oder Kollegen werden manche der Hobby-Faustkämpfer locker am Sandsack los. May erkennt die Gestressten direkt am Eingang: „Fahle Gesichtsfarbe, Kaumuskeln in Dauerbewegung, Augen zu Sehschlitzen verengt“.
Das ändere sich im Laufe des Trainings, wenn die Muskeln beansprucht werden und den Körper entspannen. „Man kann sich beim Sandsacktraining abreagieren, wenn man den Ärger loswerden will”, so Rüdiger May, einfach „negative Erlebnisse und Gedanken durch körperliche Bewegung ausdrücken und sich am Sandsack austoben, der nicht widerspricht und auch nicht zurück schlägt”.
Es ist eben besser, den Sack zu malträtieren als auf jemanden aggressiv zu reagieren. Dieser Mix aus permanenter Bewegung und starker Beanspruchung lasse Glückshormone durch den Körper strömen. Vielen geht es danach wesentlich besser. Eben ein Auspowern für’s Seelen-Heil.
Diesen Effekt des Faustkampfes habe schon der Vater der modernen Olympischen Spiele, Pierre Baron de Coubertin, im späten 19. Jahrhundert gepriesen, ergänzt der Sporthistoriker Ansgar Molzberger von der Deutschen Sporthochschule Köln. Coubertin habe das Wechselspiel zwischen physischer Verausgabung im Boxring und befriedender Wirkung außerhalb des Gyms so beschrieben:
„Der Boxer übt jeden Moment seine ganze Kraft aus, weder in Eile noch mit Zurückhaltung. Die physische Genugtuung nach einer solch massiven Energieleistung ist vielleicht der Grund, weshalb ein solch kampflustiger Sport einen dermaßen beruhigenden Einfluss hat.“
Der Sporthistoriker Molzberger sieht noch einen anderen Bonus im Fitnessboxen: „Das Erfahren der zunehmenden eigenen Schlagkraft – im wahrsten Sinne des Wortes – führt zu einer selbstbewussteren Haltung und bei vielen Menschen zu einem befriedigenden Gefühl des in-sich-Ruhens.”
Mittags eine Runde in den Ring
Passend dazu ist ein Trend aus den USA nach Europa herüber gespült: das Manager-Boxen oder White Collar-Boxen. Benannt nach den Büroarbeitern, die im Job nicht körperlich gefordert werden. Selbst Dax-Konzern-Vorstände reagieren sich in der Mittagspause im Ring ab und bereiten sich so auf Verhandlungen vor. Ganze Firmen buchen Box-Camps, um den Teamgeist zu stärken, aber auch, um interne Konflikte spielerisch zu lösen.
Thilo Sonne und sein Trainingspartner Frank Doll haben es wieder einmal geschafft. Ein stressiger Tag klingt entspannt aus. „Durch dieses Auspowern beim Training löst sich die innere Spannung”, schwärmt Doll: „Es kann zwar nicht alle Konflikte lösen, aber letztlich siehst du die Dinge wieder klarer und entspannter…”