Seit Yoga nicht mehr in der Eso-Hippie-Ecke feststeckt, sondern auch Einzug in die Fitnesswelt gehalten hat, können wir mit Hilfe von Yogaübungen nicht nur inneren Frieden finden, sondern auch “Fett verbrennen”, einen “Bikini-Apfel-Po” bekommen – und sogar “besseren Sex” haben. Versprechungen dieser Art nerven unsere Redakteurin Melanie Lotz ein wenig. Heute erklärt die nicht immer tiefen-entspannte Yogalehrerin, warum.
Pilates und Zumba sind toll. Genauso wie Klettern, Fahrrad fahren, Schwimmen und viele andere Möglichkeiten, durch körperliche Anstrengung zu glückseligen Höchstgefühlen zu gelangen – und nebenbei etwas für die schlanke Linie zu tun. Yoga ist eine dieser Möglichkeiten. Und gleichzeitig ist es etwas ganz anderes, schließlich ist Yoga keine Sportart. Oder doch?
“5 Yogaübungen für einen sommerlichen Bikini-Apfel-Po”
Glaubt man manchen Online- und Printmedien, dann kann Yoga, eine Jahrtausende alte Lehre der Einheit von Körper, Geist und Seele, mal eben so auf “5 Yogaübungen für einen sommerlichen Bikini-Apfel-Po” reduziert werden.
(Zwei Fragen: Wie sieht im Vergleich ein winterlicher Apfel-Po aus – geht das in Richtung Bratapfel? Und: Darf ein Bratapfel-Po eigentlich auch Bikini tragen?) Außerdem gibt es “Fatburner Yoga”, “Detox-Yoga”,” Yoga für besseren Sex” – warum auch nicht?
Jetzt kann man das gut finden, weil man schon immer mal so einen Bikini-Apfel-Po und besseren Sex haben wollte. Als Yogi mit längerer Praxis Erfahrung lächelt man vermutlich eher “sportlich” über die Reduzierung des Yoga auf Problemzonen-Gymnastik.
Fun Fact: Patañjali erwähnt in seinen Yoga Sutras nichts von Bikinis, Äpfeln und Fettverbrennung. Und Sex auch eher im Sinne von “weniger” als “besser”, aber das ist ein anderes Thema.
Ich versuche gar nicht erst, es zu verheimlichen: Mich nervt die Verbindung von meinem geliebten Yoga mit Bikini-Idealen ein wenig.
Yoga ist mehr als eine schnelle Lösung für vermeintliche Problemzonen
Okay, es nervt mich sogar kolossal. Weil ich als Yogalehrerin über Äußerlichkeiten erhaben bin? Nein, leider nicht. Eben deshalb schätze ich an Yoga so sehr, dass es um so ziemlich vieles geht, aber nicht um die in diesem Sommer angesagteste Obstform unseres Hinterteils. Yoga ist in diesem Sinne für mich heilig.
Ich finde es schade, wenn man aus einer wundervollen ganzheitlichen Sichtweise exakt den Teil rauszieht, der nicht typischer für ebenjene Ideale stehen könnte, die wir doch im Yoga los lassen wollen, oder nicht? Die uns eher von uns selbst entfernen als uns gut zu tun. Für mich ist Yoga kein Mittel zur Selbstoptimierung, sondern eine Chance der Selbsterfahrung.
Abnehmen mit Yoga funktioniert … ganz anders!
Natürlich kann man die Asanapraxis des Yoga nutzen, um Gewicht zu verlieren und den Körper insgesamt zu stärken und zu straffen. Mit regelmäßiger Praxis kommt das meist von ganz allein. Dafür braucht es kein extra Fatburner oder Bauch-Beine-Po Yoga. Einfach nur Yoga genügt, und wir kommen unseren wahren Bedürfnissen so nahe, dass wir immer mehr ungesunde und selbst-zerstörerische Gewohnheiten aufgeben können. Immer mehr Ballast abgeben.
In einem Prozess, während dessen wir den Mut entwickeln, uns selbst kennen zu lernen und immer mehr loszulassen, was uns nicht länger dienlich ist. Das können innere Glaubensmuster als auch überflüssige Pfunde auf den Hüften sein.
Yoga bietet uns einen Raum voller Zauber, in dem wir unsere gewohnte Sichtweise von schneller-besser-weiter und schlanker = attraktiver = liebenswerter austauschen können gegen eine vielleicht revolutionäre Erfahrung der liebevollen Selbstfürsorge. Und der Erfahrung, dass wir zu uns stehen können, so wie wir sind, unter Umständen mit unserem Birnen-, Bananen-, oder Brötchen-Hintern.
Innere Revolution: Im Yoga fühlen wir uns schön. So wie wir sind
Einer der vielen Gründe, warum Yoga so entspannend ist: Auf der Yogamatte atmen und schwitzen alle erdenklichen Körperformen, wirklich alle. Als Tänzerin war ich es gewohnt, vor Spiegeln auf Perfektion hin zu trainieren und ständig mit dem Blick von außen konfrontiert zu sein – der strengste Blick war mein eigener. Viel zu oft hat mir nicht gefallen, was ich da gesehen habe, war vorsorglich über-kritisch, aus Angst, nicht gut genug zu sein.
Viele Frauen sind sehr streng mit sich und ihrem Körper. Im Yoga gibt es keine Spiegel, hier dürfen wir uns von innen fühlen. Wie erleichternd. Es bedeutet für mich ein Riesengeschenk, das ich hoffe, weitergeben zu können: Egal wie viel ich gerade wiege, auf der Yogamatte fühle ich mich immer schön. Auch ungeschminkt, mit fettigen Haaren und Speckröllchen.
Das sinnliche Erfahren unserer Lebendigkeit: Glück macht schön
Im Yoga erfahren wir, wie es ist, sich lebendig zu fühlen: Mal stark und mächtig, mal zart und verletzlich, mal voller Energie, mal müde und schwer, auch mal ungeschickt oder unbequem – und dabei immer liebenswert. Immer der Liebe wert – vor allem der eigenen. Bei mir persönlich hat das eine Explosion von heilsamen Aha-Erlebnissen in Gang gesetzt.
Und etwas völlig Verrücktes bewirkt: Ich mag mich auch mit Speckröllchen. Nicht unbedingt in dem Moment, wenn ich die Jeans anziehen möchte, die vor drei Kilos noch so unfassbar gut passte. Aber wenn ich nach dem Yoga mit geröteten Wangen und zerzausten Haaren in den Spiegel schaue, fühle ich mich schon ein wenig sexy. Sexy = Im Reinen mit mir. Sinnlich. Weich. Verletzlich. Und doch auch stark und voller Selbstvertrauen. Mit Bauch. Po. Und allem.
„I believe in pink. I believe that laughing is the best calorie burner. I believe in kissing, kissing a lot. I believe in being strong when everything seems to be going wrong. I believe that happy girls are the prettiest girls. I believe that tomorrow is another day and I believe in miracles.“ – Audrey Hepburn
Variationen unserer Schönheit erkennen: Sich selbst mit Mitgefühl betrachten
Es ist dieses Gefühl, das ich als Yogalehrerin von Herzen gerne weitergeben möchte. Dieses zarte und doch so kraftvolle, manchmal sogar etwas unheimliche Gefühl des Friedens mit sich selbst: Wir dürfen uns lieb haben. Wir dürfen uns selber schön finden. Andere bewundern fällt uns leicht, warum nicht uns selber bewundern? Und tief innen gerührt sein davon, wer und wie wir sind. So warm und hingebungsvoll. So eifrig und irgendwie süß in unserem Bemühen. So hilflos und wütend, manchmal. So laut. So leise. Mal mit mehr, mal mit weniger Bauchumfang. Was soll’s.
“Das sind doch nur Variationen deiner Schönheit” sagte eine meiner besten Freundinnen vor einigen Jahren mal zu mir, lange bevor ich Yogalehrerin war. Ich war müde, hatte Ränder unter den Augen, fühlte mich unattraktiv und generell unfähig: Ich war in bester Jammerstimmung. Meine weise Freundin nahm meinen Selbstzweifeln mit ihrer Wärme den Wind aus den Segeln.
Gut, wenn man solche Freunde hat, doch wir können uns das auch selbst schenken: Auf der Matte üben wir, uns in unkomfortablen Haltungen nicht zu versteifen, nicht hart zu werden, sondern mit dem Atem und Empathie empfänglich zu bleiben für alles, was auf uns zukommt.
Mit einem liebevollen Blick auf uns selbst können wir erkennen, wie schön und kraftvoll wir in Wahrheit sind. Unsere äußere Form mag von Alter, Geschlecht, Ernährung und vielem mehr abhängen. Unsere Schönheit aber hängt davon ab, wie nahe wir uns sind und wie sehr wir uns selbst liebevoll annehmen können.
Geistige Gymnastik: Sich selbst immer wieder mal liebevoll auslachen
Das heißt übrigens nicht, dass wir Yogis und Yoginis unsere gestählten Oberarme nicht auch ein bisschen gut finden und den ein oder anderen Blick auf unser Gesäß werfen, bevor wir diese Glanzleggings mit dem grellen Muster auf die Matte tragen – kaum jemand ist über diese Eitelkeit erhaben, würde ich behaupten. Doch wir lernen uns mit dieser Eitelkeit und allen anderen menschlichen Eigenschaften zu akzeptieren – und uns auch hin und wieder dafür auszulachen. Liebevoll natürlich.
Jetzt mal ehrlich, ist das nicht viel wichtiger, als der Super-Knackpo? Die Liebe zum Leben lässt uns strahlen und macht uns super-attraktiv. Der Rest ist Geschmackssache. Nicht unwichtig. Aber auch nicht wirklich wichtig.
P.S. Der Sex wird mit Yoga übrigens wirklich besser
Vielleicht weil der Beckenbodenmuskel durch den Einsatz von “Mula Bandha” stärker wird. Vermutlich aber vor allem deshalb: Weil du dich selbst besser fühlen kannst, weil du mehr Freude an dir und deinem Körper hast und hemmungsloser zu dir stehst. Weil du weicher und empfänglicher wirst für Berührungen, körperlich und emotional.
Weil du deine neue Stärke in deiner Verletzlichkeit siehst und dich traust, roher und “nackter” zu sein. Weil du dich trotzdem fallen lässt. Weil du keinen bedeutungslosen Sex ohne wahre Verbindung mehr zulässt. Weil du jetzt genauer weißt, was du möchtest und dich nicht scheust, für dich zu sorgen.
Dieses Selbstvertrauen und diese Selbstliebe kann man auch ohne Yoga entwickeln. Letztendlich ist auch das Yoga nicht wichtig. Sondern nur, dass wir jeden Tag üben, uns selbst zu lieben und eine harmonische Verbindung sowohl nach innen und nach außen leben können. Yoga kann ein Weg dahin sein. Es ist ein sehr schöner Weg, wie ich finde.