Warum dürfen wir Tiere für unsere Zwecke ausbeuten und töten? Warum dürfen wir Tieren unbehelligt Leid zufügen? Wer engen Kontakt zu Tieren hat, spürt, dass Tiere fühlende, wenn nicht vermutlich denkende, Mitgeschöpfe sind, die dem Menschen – nicht allein genetisch – überwiegend ähnlich sind. Die Unterschiede sind wesentlich kleiner als die Gemeinsamkeiten (zum Beispiel ist die genetische Übereinstimmung von Schwein und Mensch 98 Prozent). Trotzdem betrachtet sich der Mensch seiner genetischen Verwandtschaft deutlich überlegen. Wie die Auswüchse der Massentierhaltung oder das schwindelerregend zunehmende Artensterben zeigen, hat dies schwerwiegende Folgen für Tier UND Mensch.
“Es gibt zwei Kategorien von Tieren. Die eine glaubt, dass es zwei Kategorien von Tieren gibt, und die andere hat darunter zu leiden.” – Richard David Precht
Der wahrheitsliebende und pragmatische Intellektuelle Richard David Precht hat ein neues Buch zu einem drängenden gesellschaftlichen Thema geschrieben: “Tiere Denken”. Um es gleich vorweg zu nehmen: Es geht in diesem Buch nicht darum, dass Tiere denken können, obgleich manche es wohl können. Sondern es geht darum, als was wir Menschen uns die Tiere denken: Um unser Bild von den Tieren, um ihre Rechte auf dieser Welt und um die Grenzen des Menschen.
Entfremdung von Mensch und Tier – Die Abspaltung der Natur im menschlichen Denken
Haben Tiere eine Seele und Gefühle kann nur fragen, wer über keine der beiden Eigenschaften verfügt. – Eugen Drewermann
Der Mensch hat die Natur in seinem Denken abgespalten. Darin gibt es nur noch ein Hier und ein Dort, ein Innen und ein Außen. Damit sind die Rollen zwischen Mensch und Tier fest aufgeteilt. Hier: Der Mensch (Gesellschaft, Kultur, etc.) – Dort: Die Natur (Umwelt, Klima, Pflanzen, Tiere…).
Die tiefe kulturelle Spaltung ist in unserer abendländischen Welt vor allem religiös bedingt. So lesen wir im 1. Buch Mose : “Und Gott sprach: Wir wollen Menschen machen nach unserm Bild uns ähnlich; die sollen herrschen über die Fische im Meer und über die Vögel des Himmels und über das Vieh auf der ganzen Erde, auch über alles, was auf Erden kriecht!” (Kapitel 1, zur Erschaffung des Menschen in Psalm 8.6-9)
Infolge der biblisch gediehenen Menschen-Herrschaft zeigt sich: “Je gründlicher der Mensch das Leben der anderen Tiere kontrollieren konnte, umso uneigentlicher scheint es zu werden. Die von ihm beherrschte Natur verliert nach und nach an Wert.” So “… bezahlen fortschrittliche Kulturen die technische Ausbeutung und Sicherung ihres Lebensraums mit der Distanz vom Leben. Je angstfreier und komfortabler sie es gestalten, umso entfremdeter ist es. (…) Je gewaltiger Menschen über die Natur zu herrschen vermögen, desto seelenloser erscheint ihnen das Beherrschte”, sagt dazu Richard David Precht.
Es lässt sich sowohl kulturgeschichtlich als auch soziologisch machtpragmatisch erklären, warum der Mensch die Tiere so behandelt, wie er sie sich denkt: Seelenlos, als Objekt zur Ausbeutung für menschliche Zwecke.
Renaissance der Naturverbundenheit – Reintegration der Tiere in Denken und Fühlen
Die ersten Menschen waren nicht die letzten Affen. – Erich Kästner
Der seelenlose Umgang des Menschen mit Natur und Tier zerstört aber auch unsere menschlichen Lebensgrundlagen: Angesichts von Massentierhaltung, Tierversuchen und einem Artensterben ungeahnten Ausmaßes stehen wir drängender denn je vor der Herausforderung, Tieren einen anderen Stellenwert einzuräumen.
Im Anbetracht der sich neigenden Ressourcen auf unserer Erde wird klar, dass wir allen Lebewesen eine angemessene Wichtigkeit und Wertigkeit beimessen müssen, um wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Und es offenbart sich, dass der Mensch ebenfalls ein natürliches Wesen im Kontext seiner Beziehungen zu anderen Lebewesen ist.
Es ist also an der Zeit, seiner tierischen Umwelt wieder mit Respekt und Achtung zu begegnen. Doch das geht nur durch eine Aufhebung der Abspaltung durch direkten sinnlichen Kontakt zu der Natur und den Tieren. Nur durch ein sinnliches Sich-Verbunden-Fühlen kann sich der Mensch wieder als Teil der Natur erleben. Nur in direkter Verbindung kann er wieder eine wahrhaft mitfühlende Beziehung zu seinen nächsten tierischen Verwandten aufbauen.
Auf der Sehnsucht nach Wiedereroberung einer seelischen Verbundenheit zur Natur und zu den Tieren beruhen auch die Erfolge aktueller Buchtitel wie Peter Wohllebens “Das Seelenleben der Tiere” oder Charles Fosters “Der Geschmack von Laub und Erde”.
Dieser eher “gefühlige”, weder philosophisch noch wissenschaftlich fassbare Aspekt, wird bei Richard David Prechts philosophischer-geschichtlicher Betrachtung in “Tiere Denken” ein wenig heruntergespielt. Doch gerade das individuelle Gefühl gegenüber den Tieren, die Wahrnehmung einer seelischen Verbundenheit, wird diese Menschen am ehesten bewegen, die Tiere in Zukunft besser zu behandeln und zu schützen.
Tiere fernab von Elefant, Giraffe und Nashorn – Tiere und das Artensterben in unserem direkten Umfeld
Es ist nicht auszudenken, wie gefährlich die Welt ohne Tiere sein wird. – Elias Canetti
Tiere im Zoo sind für alle Menschen von jeher die interessantesten Geschöpfe der Tierwelt. Sie sind meist exotisch, groß, gefährlich, schön, spektakulär oder besonders liebenswert. Ohne die Ausstellung immer seltener werdenden Tierarten in Zoos und deren Aufklärungs- und Unterstützungsarbeit, hätten die meisten Menschen wohl noch weniger Beziehung zu ihren tierischen Verwandten.
Mittlerweile kennen die meisten Kinder zwar Löwe, Affe und Schimpanse, aber die wenigsten zum Beispiel die unter Artenschutz stehende Gelbbauchunke, die von Naturschützern gerade vor dem Aussterben gerettet wird.
Dabei ist es so immens wichtig für die Zukunft der Menschen, dass wir auch für den Fortbestand der kleinsten und scheinbar unsichtbaren Arten sorgen.
Wer den Zusammenhängen auch kleinster Tierwelten einmal auf den Grund gehen möchte, kann mit Käscher, Lupe und Eimer in seiner Umgebung Wassertiere aus einem Bach fischen und wird dabei Erstaunliches entdecken: Bachflohkrebse, Muscheln, Köcherfliegenlarven, Schnecken und viele andere Kleinsttiere finden sich in jedem Mikrokosmos eines jeden kleinen Bächleins, das sich durch unsere Landschaft schlängelt.
Anhand der vorhandenen tierischen Bewohner kann man sogar die vorhandene Wasserqualität bestimmen und Rückschlüsse darauf ziehen, welche anderen Tiere und Pflanzen sich aufgrunddessen rundherum ansiedeln. Sind nur noch Schlammröhrenwürmer oder Rattenschwanzlarven im Bach, dann haben wohl Überdüngung oder Pestizide der umliegenden Landwirtschaft bereits zu einer starken Einschränkung des Lebensraums für Tiere geführt, die nicht bei diesen Wassertieren endet.
Bleiben nur die kleinsten Bachtiere wie zum Beispiel die Köcherfliegenlarve aus, dann finden auch Vögel weniger Nahrung. Kommen weniger Vögel, so nehmen unerwünschte Arten überhand, zum Beispiel Mücken, und es siedeln sich weniger oder andere Pflanzen an. In Folge verändert sich eine ganze Landschaft und ihre tierische Besiedelung, teilweise bis hin zum tatsächlich vorhandenen Bienensterben, was immense Auswirkungen auf unser menschliches Leben hat.
Echtes Mitgefühl für Tiere oder Konsum-Ethik als gesellschaftlicher Trend?
Wir haben nicht zwei Herzen – eins für die Tiere und eines für die Menschen. – Alphonse de Lamartine
Glaubt man den regelmäßigen Studien der Universität Marburg in ihrem Jugendreport Natur, so müssen wir leider von einer noch weiter zunehmenden Entfremdung von Mensch und Natur, und damit auch zu den Tieren ausgehen.
Studien mit den Titeln “Das Bambi-Syndrom”, “Nachhaltige Entfremdung” oder “Natur obskur” dokumentieren eindrücklich das Verschwinden der Natur aus der sinnlichen Wahrnehmung der jungen Menschen. Auch die gleichzeitige Romantifizierung (Bambi-Syndrom, Bauernhofromantik) darf nicht mit Mitgefühl für die Natur verwechselt werden.
Im Gegenteil: Es wird umso mehr der Widerspruch zwischen der Überhöhung der Natur durch ein künstlich-nostalgisches Naturverständnis und gleichzeitig bedenkenlosen Konsum offensichtlich: Die Menschen wollen Bauernhofromantik, essen aber trotzdem billiges Fleisch aus der Massentierhaltung oder Eier aus der Legebatterie.
Ist aufgrund des mangelnden Naturkontaktes junger Menschen keine natürliche Verbundenheit zu Natur und Tier mehr aufzubauen, kann man sie vielleicht nur noch dann zum Umdenken bewegen, wenn man sie als Konsumenten anspricht: Mit einer Konsum-Ethik, die das Tierwohl als gesellschaftlichen Trend in den Vordergrund stellt!
Tiere essen – Sind Tierschutz, Vegetarismus und Veganismus ausreichend für das Tierwohl?
Wir werden von dem Aberwitz abkommen, ein ganzes Huhn zu züchten, um die Brust oder den Flügel zu essen, und diese stattdessen in einem geeigneten Medium züchten. Winston Churchill
Kein Fleisch mehr aus Massentierhaltung zu essen muss also gesellschaftsfähig und vielleicht sogar zum absoluten Trend werden, schlägt daher auch der Philosoph Richard David Precht in seinem Buch “Tiere Denken” vor. Entgegen der zwar richtigen – aber in seinen Augen teils unrealistischen – Vorgehensweise von Tierschützern und Veganern, propagiert der Autor nicht den absoluten Verzicht auf Fleisch und tierische Lebensmittel, sondern, dass wir unseren zukünftigen Konsum von Fleisch oder anderen Tierprodukten durch Klonfleisch und im Labor erzeugten tierischen Produkten decken.
Er nähert sich mit einem sehr realistischen Szenario zur Abschaffung der Massentierhaltung einem der drängendsten Probleme unserer Gegenwart:
“Alle möglichen Einwände gegen “Kulturfleisch” erscheinen geradezu niedlich gegenüber den ökologischen und ethischen Verbrechen, die die konventionelle Fleischerzeugung den Menschen und Tieren zumutet.” Natürlich steht es jedem frei, Vegetarier oder Veganer zu werden. Man kann auch auf Algen und Insekten als die zukünftigen Energie- und Proteinlieferanten des Menschen setzen.” Doch dieser Weg scheint am wahrscheinlichsten zu sein:
“…in etwa fünf Jahren erscheinen die ersten Packungen mit Cultured Meat oder Cultural Beef in den Regalen der Supermärkte…. Frauen lieben, dass es so fettarm ist. Männer lächeln darüber, sie behandeln das neue Fleisch wie alkoholfreies Bier: nicht sehr männlich, aber irgendwie ganz gut und sinnvoll.” Aber “… es taugt als Statussymbol. SUV fahrende Ökostromkunden springen als Erste auf. … Die Talkshows thematisieren `Gutesser gegen Schlechtesser – Wie teuer ist die Tierliebe?
Die Fleischlobby gibt Studien in Auftrag und lanciert Artikel … wie `Ist Laborfleisch krebserregend?´. Falschmeldungen erschrecken Verbraucher über Jahre. Acht Jahre nach der Einführung ist Cultured Meat so billig wie Schlachthoffleisch, zwei Jahre später sogar billiger. Die großen Fast-Food-Ketten steigen ein und preisen …: Aus Liebe zum Tier! Im Bundestag … kommt es zu Debatten. Steht hinter der Massentierhaltung eigentlich noch ein `vernünftiger´ Grund, wenn man Fleisch ethisch und ökologisch sauberer produzieren kann? …Gemeinsam bewirken sie das Verbot von Legebatterien mit mehr als 300.000 Tieren in der EU bis zum Jahr 2030 und feiern das sensationellen Erfolg.
Die Entwicklung überrollt derweil die Politik im Eiltempo. Inzwischen reicht die ethisch saubere Produktpalette vom Burger übers Würstchen, Steak und Entrecote bis hin zu Leberwurst und Hühnerbrust. Cultured-Meat-Kochbücher werden zu Bestsellern. .. Die Fleischindustrie kämpft einen verzweifelten Propagandakampf – wie lange Zeit die Atomlobby -, aber sie kann nicht mehr gewinnen. … Großinvestoren steigen aus der Massentierhaltung aus und auf Cultured Meat um. … Eine Real-Beef-Bewegung entsteht und kocht die Medien hoch.
Die Moderatoren Jan Böhmermann und Benjamin von Stuckrad-Barre tragen T-Shirts mit der Aufschrift: “Ich esse Tiere!” – Das amüsiert. … Fleisch aus fernen Ländern wird immer teurer und exklusiver. … Die Zeitschrift Beef wird eingestellt. … Real-Beef-Fans geraten ins gesellschaftliche Abseits. … Kinder, die mit Cultured Meat aufwachsen, finden echte Tiere auf dem Grill `pervers´. … Nur wenige Menschen in Deutschland und anderen westlichen Ländern essen jetzt Fleisch. Innerhalb von zwanzig Jahren haben sich Ethik und Preis, die einander früher unversöhnlich entgegenstanden, beim Cultured Meat vereint und ein kollektives Umdenken ermöglicht. Massentierhaltung ist abgeschafft, Fleischessen wird zur schrägen Passion.”
– Gekürzter Ausschnitt aus dem Buch “Tiere Denken”, S.377ff.
Tierethik als Konsumtrend – Marketing und Kommunikation zur Rettung der Tiere
Wer das durchaus realistische Szenario von Richard David Precht liest, sieht einen typischen möglichen Ablauf im Umgang mit dem Thema `Fleisch Essen´ in unserer Medien- und Konsumgesellschaft. Wie auch immer man zu Cultured Meat stehen mag: jeder von uns hat in diesem tragisch-komischen Szenario seinen Platz!
Das Gute ist: Es könnte funktionieren. Das Traurige ist: So viel wir uns bemühen, die Lage der Tiere philosophisch oder wissenschaftlich zu beleuchten, so viel Mitgefühl manch einer für die Tiere und ihre Lage auch immer entwickeln mag – in unserer von der Natur abgekoppelten wirtschaftlichen und politischen Konsum-Realität mag sich eine neue Tier-Ethik nur noch über gutes Marketing und mediale Kommunikation erzielen lassen.
Nur wenn Massentierhaltung und Fleisch Essen medial zu gesellschaftlichen Anti-Trends erklärt werden und der Konsument die Botschaft schluckt, wird auch die Politik und am Ende auch die Wirtschaft nachziehen.