Uns selbst liebevolle Aufmerksamkeit und echtes Mitgefühl zu schenken, fällt uns häufig schwer. Zu unangenehm, lästig oder bedrohlich erscheinen manche Gefühle, so dass wir sie lieber erst gar nicht wahrnehmen. Die Beschreibungsmeditation der Hamburger Psychotherapeutin Karla Mikoteit hilft uns, Gefühle zuzulassen und schließlich loszulassen, so dass wir zu mehr innerem Frieden und tief empfundener Freude finden können. Die evidero-Redakteurin Melanie Lotz begegnete der Übung für mehr Selbst-Empathie im Coaching und Ausbildungsprogramm von Beate Waltrup, Trainerin für Gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg.
Im Trubel des Alltags möchten wir in unseren unterschiedlichen Rollen bei der Arbeit, in der Familie und in Freundschaften funktionieren. Zeit und Raum, um unsere Gefühle wahrzunehmen, geben wir uns selten. Besonders Gefühle, die wir als unangenehm empfinden, möchten wir gerne vermeiden: Wir schlucken sie runter oder lenken uns von ihnen ab. In Konfliktsituationen wiederum werden wir leicht von einem Gefühl übermannt und reagieren so impulsiv und heftig, dass wir es im Nachhinein oft bereuen. Manchmal verschmelzen wir sogar so sehr mit unseren Gefühlen, dass wir in Selbstmitleid versinken.
Selbstempathie bedeutet im Unterschied zu Selbstmitleid, dass wir uns in dem gegenwärtigen Moment wahrnehmen, ohne uns für unsere Gedanken und Gefühle zu verurteilen und ohne mit ihnen zu verschmelzen. Mitgefühl für uns selbst bedeutet, dass alles präsent sein darf, was in uns auftaucht: Indem wir unsere Gefühle und Gedanken wertfrei akzeptieren, nehmen wir uns selbst liebevoll an.
Die Beschreibungsmeditation ist ein Werkzeug, um uns in allen Situationen des täglichen Lebens selbst beiseite zu stehen. Sie ermöglicht uns, intensive Gefühle wahrzunehmen, ohne in ihnen zu versinken. Sie lässt uns in Konflikten gefühlvoll und besonnen reagieren. Und sie gibt uns den Raum, uns selbst nahe zu sein und uns mit Mitgefühl und Liebe zu begegnen.
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In der Beschreibungsmeditation üben wir, alle unsere Gefühle, Gedanken und Körperempfindungen zuzulassen und ohne Urteil wahrzunehmen. Wir beschreiben aus der Sicht eines inneren Beobachters, was in uns vor sich geht: Auch Gefühle, gegen die wir uns normalerweise wehren würden, weil wir sie als unangenehm oder sogar schmerzhaft empfinden, nehmen wir wohlwollend an. Und auch Gedanken, die wir uns normalerweise nicht erlauben würden, weil wir sie als unerzogen, unklug oder gemein bewerten, lassen wir zu.
Es geht also nicht darum, in der Meditation möglichst wenig zu denken und möglichst wenig zu fühlen. Ganz im Gegenteil: Wir nehmen uns einen Augenblick, in dem wir uns intensiv wahrnehmen und bewusst alle Gedanken, Gefühle und Körperempfindungen zulassen.
Im Laufe dieser intensiven Verbindung mit uns selbst werden wir zunächst viel mehr spüren, als wir es für gewöhnlich tun: Plötzlich bemerken wir vielleicht ein Pochen in den Unterschenkeln, ein Ziehen in der Seite, ein leichten Krampf in der Magengegend. Gedanken und Gefühle tauchen auf, von denen wir eventuell gar nicht wussten, dass sie in uns schlummern.
Wir lassen uns nicht in das Drama und die Geschichten unseres Innenlebens hineinziehen. Stattdessen beschreiben wir jeden Gedanken, jedes Gefühl und jede Körperempfindung einzeln in drei formalisierten Sätzen, die uns helfen, den inneren Abstand zu wahren, der bewusstes Handeln erst möglich macht. Diese Leitsätze wurden von Karla Mikoteit, Fachärztin für Psychosomatik und Psychotherapie, entwickelt.
1) Beschreibung eines Gefühls, Gedanken oder einer Körperempfindung: “Da ist…”
Im ersten Schritt nehmen wir wahr, was in dem gegenwärtigen Moment in uns vorgeht. In der Beschreibung dessen bleiben wir simpel und “sachlich“: Wir benutzen keine persönliche Fürwörter wie “Ich”, “mein” oder “mir”, um zu verdeutlichen, dass wir zwischen uns selbst als Beobachter und dem, was in uns wirkt, unterscheiden.
Wir sagen also nicht: Ich habe Angst. Ich denke, dass ich nicht gut genug bin. Mir ist kalt. Ich habe einen Krampf im Magen. – Stattdessen beschreiben wir sachlich und neutral:
Da ist des Gefühl der Angst.
Da ist der Gedanke, nicht gut genug zu sein. (Nicht: Da ist der Gedanke, dass ICH nicht gut genug bin).
Da ist ein Krampf im Magen.
Die distanzierte Formulierung mag zunächst etwas holprig erscheinen. Doch mit etwas Übung wird sie uns immer leichter fallen und uns ein Gefühl der Sicherheit geben. Sie nimmt den Gefühlen ihre Bedrohlichkeit und schafft einen Raum zwischen uns und dem Gefühl. Durch diese Art “Sicherheitsabstand” kommen wir uns gleichzeitig näher, da wir mehr Gefühle zulassen und intensiver spüren können.
Manche Gedanken und Gefühle sind so gut in uns versteckt, dass wir zunächst einmal nur Leere spüren mögen. Beschreibe auch dies sachlich und ohne Erwartungsdruck: Da ist das Gefühl der Leere. Im nächsten Schritt wendest du dich deinem Körper zu: Wie fühlt sich die Leere körperlich an, an welcher Stelle spürst du sie, welche Gefühle gehen mit dem großen Nichts einher?
Der Körper ist die Brücke zwischen unseren Gedanken und Gefühlen. Wenn wir beschreiben, welche Körperreaktion auf einen Gedanken folgen, bringt uns das unseren Gefühlen näher. Nur über das liebevolle Annehmen aller unserer Gedanken und Gefühle können wir diese verarbeiten und schließlich loslassen, wenn sie “fertig” sind.
2) Nicht-Identifikation: “Ich, die ich dies beschreiben kann, bin mehr als das.”
In dem Moment, da wir ein Gefühl, einen Gedanken, unseren Körper beobachten und beschreiben können, sind wir mehr als unsere Empfindungen. Wir sind weder ein Gedanke noch ein Gefühl, auch wenn diese gerade intensiv in uns wirken mögen. Gedanken und Gefühle sind ein Teil von uns, doch sie kommen und gehen.
Unser Kern ist unser Bewusstsein, das unabhängig von unserem sich ständig verändernden Innenleben existiert. Das “Auge” des Bewusstseins wird auch “Innerer Beobachter” genannt: Der Teil in uns, der den Blick nach innen richten und uns selbst betrachten kann.
3) Wertfreies Wahrnehmen: “Ich nenne es weder gut noch schlecht.”
Wir erinnern uns daran: Alle Gefühle, Gedanken und körperlichen Reaktionen sind berechtigt und grundsätzlich willkommen. Wenn wir Teile von uns als schlecht, böse oder unerwünscht bewerten, dann können wir uns nicht als Ganzes erfahren und annehmen, so wie wir sind. Gerade Gefühle wie Angst, Trauer, Neid, Einsamkeit, die wir negativ besetzen, brauchen ihren Raum, um gefühlt zu werden, da wir sie im Alltag oft unterdrücken. Solange wir sie nicht zulassen, können wir sie nicht heilen und loslassen.
Sollten Bewertungen und Urteile in unserem Geist auftauchen, dann nehmen wir diese ebenso wertfrei wahr, wie alle anderen Gedanken und Gefühle. Wir beschreiben sie mit den drei Sätzen der Beschreibungsmeditation, zum Beispiel: Da ist der Gedanke, so nicht fühlen zu dürfen/wollen. Ich bin mehr als der Gedanke. Ich nenne ihn weder gut noch schlecht.
Es kann auch der Gedanke aufkommen, dass die Meditation “Quatsch” ist und “nichts bringt”. Auch hier einfach den Gedanken beschreiben und im Anschluss in den Körper hineinspüren: Welche Gefühle begleiten den Gedanken und wo sind diese körperlich spürbar? Meist führen die körperlichen Empfindungen zu den Gefühlen, die hinter unseren Gedanken verborgen sind, beispielsweise Hilflosigkeit, Angst, Frustration.
Beispiel für beschreibendes Meditieren
Wir beginnen mit dem vorherrschenden Gefühl oder Gedanken oder einer Körperempfindung, die wir jetzt, in diesem Moment intensiv wahrnehmen. Meist taucht nach der Beschreibung der ersten Empfindung gleich eine weitere Empfindung auf gedanklicher, emotionaler oder körperlicher Ebene auf. Wir beschreiben alle Empfindungen einzeln und nacheinander. Manche Empfindungen möchten mehrmals wahrgenommen werden, dann beschreiben wir sie so oft, bis sie “fertig” sind.
Da ist eine Angst. Ich, die ich dies beschreiben kann, bin mehr als das. Ich nenne es weder gut noch schlecht.
Da ist ein Herzklopfen. Ich, die ich dies beschreiben kann, bin mehr als das. Ich nenne es weder gut noch schlecht.
Da ist der Gedanke, nicht gut genug zu sein. Ich, die ich dies beschreiben kann, bin mehr als das. Ich nenne es weder gut noch schlecht.
Da ist ein Knoten in der Kehle. Ich, die ich dies beschreiben kann, bin mehr als das. Ich nenne es weder gut noch schlecht.
Da ist der Gedanke, in der Prüfung kein Wort herauszubringen. Ich, die ich dies beschreiben kann, bin mehr als das. Ich nenne es weder gut noch schlecht.
Da ist ein angehaltener Atmen. Ich, die ich dies beschreiben kann, bin mehr als das.
…
Präsent sein für mehr inneren Frieden
Du wirst bemerken: Je mehr du in dich hineinspürst und alle inneren Empfindungen liebevoll annimmst, ohne sie zu werten und ohne dich mit ihnen zu identifizieren, desto mehr wird sich die innere Aufruhr legen. Je nach Intensität des ursprünglichen Gefühls kann das einige Sekunden dauern oder auch mehrere Minuten. Wichtig ist, dass du nicht auf das “Ende” wartest und die Übung nur machst, um eben doch dein Gefühl “loszuwerden”.
Bleibe bei dem, was ist, in dem Moment, da es in dir entsteht. So begegnest du dir mit Empathie und Liebe. Nur das ehrliche und wohlwollende Empfangen deiner Gefühle und Gedanken lässt schließlich Ruhe und Frieden einkehren.
Beschreibungsmeditation als Ritual der Selbstempathie
Du kannst die Beschreibungsmeditation als tägliches Ritual nutzen, um dir regelmäßig liebevolle Aufmerksamkeit zu schenken. Du kannst sie auch zwischendurch in Gedanken üben: Anstatt beispielsweise deinem ersten Impuls zu folgen und genervt auf einen Kollegen zu reagieren, nimmst du das Gefühl der Genervtheit und alle begleitenden Gedanken und Körperreaktionen wahr. Das gibt dir die Möglichkeit, einen Moment innezuhalten, dir selbst Empathie zu schenken und dann in Ruhe zu entscheiden, wie du deinem Kollegen begegnen möchtest.