Nicht nur in Hollywood ist die Gesichtsbehaarungsdichte seit einiger Zeit besonders auffällig, sondern auch in Deutschland: Barbershops, in denen fast vergessene Techniken für Bart und Kopfhaar zelebriert werden, schießen aus allen Ecken aus dem Boden. Diese Entwicklung hat vor allem mit der Sehnsucht nach innerem und äußerem Aufgeräumtsein zu tun, die mit festen Ritualen einhergehen. Das häusliche Putzen und das Aufputzen der eigenen Persönlichkeit haben mehr gemeinsam als wir denken.
Barbering im amerikanischen Retrodesign – Hype des haarigen Handwerks
Die Anzeigen in namhaften Lifestyle-Magazinen sind nicht zu übersehen: Der Düsseldorfer Barbier Shamsedin Rada („Hagi“) gibt RUM BOTUCAL im Rahmen der internationalen Kampagne „Die Welt braucht mehr Botschafter“ ein Gesicht. Seit 26 Jahren folgt „The Godfather Of Barbering“ seiner Berufung: Seinen ersten „Cut&Finish“ Salon eröffnete er 1998 in Krefeld, 2002 zog er mit dem Geschäft nach Düsseldorf auf die Graf-Adolf-Straße in die Nähe der Königsallee. 2015 wurde er umgestaltet und in „Hagi’s Barber Shop“ umbenannt.
Hier wird die Tradition des „Barbering“ im amerikanischen Retrodesign zelebriert. Als eines der ersten Magazine in Deutschland berichtete „Der Vintage Flaneur” über diesen anhaltenden Trend. Chefredakteurin Miriam Dovermann, die sich selbst „Fräulein Dovermann“ nennt, nimmt hier auf, was ihr das Leben gerade an Material hergibt und versucht unter Einbeziehung von allem, was ihr in den Weg kommt, das Schönste und Beste daraus zu machen.
Johannes Keppler, Martin Ganskow und Martin Kroll wurden Bartfreunde, kurz nachdem sie sich im Studium kennengelernt hatten: In einer Bar schmiedeten sie die Idee, eine Bartpflege zu entwickeln. Unterstützung erhielten sie von Ganskows Mutter, die sich als Pharmazeutin mit Inhaltsstoffen, Ölen und Fetten sehr gut auskennt. Über Monate hinweg wurden verschiedene Bart-Öle angemischt und getestet. Daraus entwickelte sich dann eine Geschäftsidee: Im Juni 2015 verkauften die drei jungen Unternehmer die ersten Flaschen ihres Öls über Barbiere und in ihrem eigenen Online-Shop. Inzwischen wird das Produkt bei einem Kosmetikhersteller hergestellt.
In der TV-Gründershow „Die Höhle der Löwen“ hatten sie leider keinen Erfolg, da das Konzept noch sehr unausgereift war. Seit der Aufzeichnung haben sie jedoch weitergearbeitet und wachsen nun stetig und nachhaltig – ohne Investor.
Persönlichkeitspflege als Sehnsucht nach Struktur, Ordnung und Ritualen
Rasieren ist heute für viele Männer längst keine bloße Hygienemaßnahme mehr, sondern gleichzeitig auch Pflege der eigenen Persönlichkeit. Der Bart, in vielen Kulturen Symbol von Macht und Männlichkeit, ist für sie Accessoire und modische Aussage. Bekannte Bartträger waren bzw. sind Adidas-Chef Kaspar Rorsted, Deutsche Bank-Aufsichtsratschef Paul Achleitner, Schauspieler George Clooney, Axel Milberg oder Karl-Theodor zu Guttenberg.
Der Bart ist eine haarige Angelegenheit, bei dem sich Sein und Schein vermischen. Manchmal ist auch das Wesen hinter dem Bart längst ausgelöscht. Am eindringlichsten zeigt sich dies in der 1911 entstandenen Novelle „Der Tod in Venedig“ von Thomas Mann: Je mehr sich seine fiktive Hauptfigur Gustav von Aschenbach (der Name klingt schon nach Auflösung) der Kontemplation des Schönen hingibt, desto ausgeprägter werden die Zeichen des Verfalls. Während sich in Venedig die Anzeichen mehren, dass sich Cholera in der Stadt ausbreitet, verfällt auch Aschenbach körperlich. Er wird zu einer Karikatur seiner selbst, als er sich von einem Barbier seine Haare schwärzen, das Gesicht weißen und die Lippen rot anmalen lässt. In seiner Maskierung nimmt er nicht einmal wahr, dass die Touristen mittlerweile die Stadt verlassen.
Und heute? Der Bart mag für einige durchaus auch eine Maskierung in einer immer mehr zerfallenden Welt sein. Aber der Trend verweist noch auf etwas anderes, das weitaus bedeutsamer ist: die Sehnsucht nach Struktur, Ordnung und Ritualen. Denn je unruhiger, unberechenbarer und komplexer die Welt wird, desto ausgeprägter ist die menschliche Sehnsucht nach Ruhepolen.
Bärte als Symbole der Ordnung – Sich herausputzen und das Haus putzen
Das „Herausputzen“ ist ein schönes Symbol dafür. Damit verbunden ist auch die Sehnsucht nach häuslicher Ordnung: Claudia Silber, die zu Deutschlands Gesichtern der Nachhaltigkeit gehört und hauptberuflich als Leiterin Unternehmenskommunikation bei der memo AG arbeitet, bezeichnet sich augenzwinkernd als “Wohnungsspießerin”, denn keine Woche vergeht, ohne „zumindest einmal die Wohnung von oben nach unten auf Vordermann zu bringen.”
Auch der anspruchsvolle Mann legt Wert auf Ordnung und findet sie in der handwerklichen Meisterschaft der Barbiere. Er möchte nicht im Friseursalon „zwischen Strähnchen und Farbe für weibliche Kunden reingeschoben zu werden”. Den zurückgekehrten Kult um den Bart hat auch das italienische Familienunternehmen Martelli für sich entdeckt. Es betreibt „mit schräger Werbung die globale Expansion“ (Süddeutsche Zeitung, 29.3.2016, S. 20).
In Deutschland wird die wachsende Zahl der Barbershops bereits auf 400 bis 500 geschätzt. Vorbild der deutschen Barbershops ist das Schorem in Rotterdam. Der Name steht für Abschaum oder Gesindel sowie für „Ich habe ihn rasiert“. Am 23. Oktober 2016 traf sich die Barber-Szene bei den “German Barber Awards” im Nürnberger Messezentrum, wo 15 Barbiere (darunter eine Frau!) aus dem deutschsprachigen Raum um den Titel “German Barber Awards” kämpften. Zu sehen waren kunstvolle Bärte und Haarschnitte nach 50er Jahre-Vorbildern.
Mit den boomenden Barbershops ist auch der Trend zur aufwendigen Nassrasur und zum teuren, stylischen Rasierpinsel verbunden. So erlebt die Manufaktur „Mühle“, die seit 70 Jahren in Hundshübel im Erzgebirge Rasierpinsel in Handarbeit herstellt, gerade einen Boom bei Dachshaar-Pinseln. Der gute alte Rasierpinsel kostet etwa 70 Euro.
Bärte ökologisch pflegen – Kamming-Out ist Retrotrend und nachhaltig möglich
Der Markt für Nassrasierer und Klingen, der fest in der Hand von Gillette und Wilkinson („Das Beste im Mann“) ist, wird dadurch zwar nicht erschüttert, aber er ist umgeben von kleinen, feinen und fairen Marktinseln und Produkten, die vor einigen Jahren von vielen Männern noch belächelt worden wären und heute für die Bartpflege gern gekauft werden: Bürsten aus Wildschweinborsten, Birnbaumholz-Kämme, Bartscheren, Bartseife, Bartöl, Rasier-Gel, Schnurrbart-Striegel mit Naturborsten.
Auch in der deutschen Nachhaltigkeitsszene ist das Thema längst angekommen. So wird auf Öko-Portalen beispielsweise milder Rasierschaum mit Bio-Bambus und Bio-Aloe Vera angeboten, ohne Tierversuche entwickelt und nach den Regeln von NATRUE, einem Zusammenschluss führender Naturkosmetikproduzenten, zertifiziert. Die Kontrolle erfolgt über unabhängige Zertifizierungsstellen (Quelle: memolife).
Die Nachhaltigkeitsexpertin Claudia Silber verweist noch auf einen zusätzlichen Aspekt, der bei aller Schaumschlägerei nicht übersehen werden sollte: der “ökologische Wahnsinn” der Einmalrasierer aus billigstem Plastik. Ein gutes Gegenbeispiel ist Shave-Lab: Hier wurde ein Rasiersystem für Männer und Frauen entwickelt, bei dem sich jede/r den passenden und stilvollen Rasiergriff und die optimalen Rasierklingen zusammenstellen kann.
Putzen ist – wie für die Männer die Bartpflege – ein Netz aus Routinen, das wiederum eine wichtige Grundlage für zielgerichtete Aufmerksamkeit ist. Der Begriff „Routine” ist eine Verkleinerungsform von Route (einem schmalen Pfad). Beide haben mit Wiederholungen zu tun, die gleichzeitig mit einem Sicherheitsgefühl einhergehen, das viele als Gegenmittel gegen den Stress empfinden. Putzen und „Aufputzen“ der eigenen Persönlichkeit haben demnach viel gemeinsam. Wer behauptet, dass Putzen eine Last sei, dem legt die Nachhaltigkeitsexpertin ans Herz, einfach den Blickwinkel zu ändern, und auch diese Zeit im „Hier und Jetzt” zu genießen.
Wenn sich Männer heute verstärkt in Barbershops Bärte und Haare buchstäblich in Ordnung bringen lassen, dann stellen die Besuche für sie auch willkommene Rückzugsorte und markierte Zeitinseln in der Gegenwart dar, wo man(n) unter sich ist und etwas für sein Aussehen tut. Die neue Bartkultur mag zwar eine Welt für sich sein, aber sie zeigt uns, dass das Individuelle und Besondere einer Gesellschaft, in der vieles immer schneller und austauschbarer wird, gut zu Gesicht steht.