Das Streben nach Erhalt der Artenvielfalt in der Pflanzen- und Tierwelt ist kein Romantik-Spleen von Naturschützern oder Umweltaktivisten. Es ist der Versuch, jahrtausendealte, vom Menschen kultivierte Sorten oder Nutztierrassen als identitätsstiftende Kulturgüter zu erhalten. Wer schon einmal den intensiv fruchtigen Eigengeschmack alter heimischer Tomatensorten genießen konnte, der ahnt schnell, warum sich der Erhalt alter Obst- und Gemüsesorten schon rein aus Genussgründen lohnt.
Einfalt statt Vielfalt an der Obst- und Gemüsetheke – Nur noch sechs Apfelsorten zur Auswahl
Allein in Europa gibt es ursprünglich 20.000 Apfelsorten, davon sind aber nur maximal 50 wirtschaftlich relevant und circa sechs davon landen im heimischen Supermarkt. Dies sind meist Boskoop, Jonagold, Elstar, Cox Orange, Golden Delicious und Granny Smith. Dieselbe reduktionistische Entwicklung haben auch Tomaten, Birnen und viele andere heimische Obst- und Gemüsesorten längst genommen.
Von einst über 50.000 Pflanzenarten weltweit werden nur noch 30 für die Welternährung als relevant erachtet, darunter Kartoffeln, Mais, Reis oder Weizen. Diese werden in industrieller Landwirtschaft hergestellt, sind marktgerecht standardisiert und meist schon gentechnisch verändert.
Einschränkung der Agrobiodiversität – Verlust von Geschmack, Genuss und Lebensart
Bei dieser Entwicklung bleibt die so wichtige Agrobiodiversität vollkommen auf der Strecke. Das Bundesamt für Naturschutz erklärt: “Agrobiodiversität ist ein weit gefasster Begriff, der alle Komponenten der biologischen Vielfalt umfasst, die von unmittelbarer Relevanz für Ernährung und Landwirtschaft sind…” Mit Einschränkung der Agrobiodiversität verschwinden aber nicht nur relevante Komponenten unserer Ernährung, sondern auch wichtige Kulturgüter, die durch jahrhundertealtes Wissen und Erfahrung in biologischer Vielfalt für uns Menschen entwickelt wurden.
Dabei gehen uns nicht nur alte Nutzpflanzen und Wissen verloren, sondern auch der Geschmack und damit der Genuss. Die Auswahl an Obst und Gemüse im Supermarkt wird vor allem aufgrund ihrer Wirtschaftlichkeit angeboten.
Üppiges, schnelles Wachstum der Pflanzen, gutes Aussehen sowie eine lange Lagerfähigkeit stehen als Hauptkriterien im Vordergrund. Das geht schnell, ist billig und verkauft sich gut. Aber leider auf unsere Kosten, denn Industrialisierung und Vereinheitlichung von Saatgut und Obst- und Gemüsesorten sind auf Dauer schädlich für die Umwelt und uns Menschen. Die rein ökonomisch motivierte Verminderung der Agrobiodiversität schränkt erheblich unseren Genuss und unsere Lebensart ein.
Zu wenig alte Sorten und Artenvielfalt – Verlust regionaler Kultur, Identität und Heimat
Wer wehmütig an den Geschmack Omas eingemachter Früchte und Gemüse aus dem Garten denkt oder gar in seiner Kindheit noch auf Kirschbäumen gesessen hat und mit aprikosengroßen Süßkirschen Kirschkernweitspucken gemacht hat, der erinnert sich womöglich an den unvergleichlichen Geschmack alter Obst- und Gemüsesorten.
Heute gibt es nur noch eine Kirsch-Sorte im Supermarkt: süße Schwarzkirschen, meist aus dem europäischen Umland. Wo die hellfrüchtigen prallen Süßkirschen mit zaghaften roten Bäckchen eigentlich geblieben sind, fragen sich wohl nur noch Generationen ab 40+. Die Jüngeren kennen sie meist schon gar nicht mehr.
Dabei sind alte Obst- und Gemüsesorten und deren Vielfalt gerade das Besondere einer Region. Sie prägen die heimische Kulturlandschaft, die sich vor allem auch durch eine regionaltypische Natur, Pflanzen, Tiere sowie kulinarische Angebote von anderen Regionen abhebt. Insofern hat die Erhaltung der Agrobiodiversität auch eine identitätsstiftende Funktion für die Menschen der Region.
Wirtschaftliche Interessen und politische Ignoranz – EU blockiert Saatgutsouveränität
Der Erhalt von Vielfalt ist auch wichtig für unsere Umwelt. Nur ein großer und lebendiger Genpool und eine kräftige Durchmischung bei der Fortpflanzung bewirken, dass Pflanzen eine eigene Resistenz gegen Krankheiten oder Schädlinge entwickeln. Das erspart auf mittel- bis langfristige Sicht den zusätzlichen Einsatz von Schädlingsbekämpfungsmitteln beim landwirtschaftlichen Anbau.
Genau umgekehrt verhält es sich bei den Hochleistungszüchtungen wie zum Beispiel Mais, Reis oder Weizen, die im großen Stil von einer vorwiegend industrialisierten Landwirtschaft angebaut werden. Hier werden Pflanzenschutzmittel intensiv eingesetzt und sogar gleich passend zum Saatgut an den Industrielandwirt mitgeliefert. Ein gutes Geschäft für Saatgut- und Pflanzenschutzmittelhersteller.
Leider blockiert die EU-Saatgutrichtlinie durch eine Einengung bei der Zulassung von Saatgutsorten weiterhin den Handel mit alten Obst- und Gemüsesorten. In einer Kampagne für Saatgutsouveränität gegen die weitere Einschränkung und Verminderung von biologischer Vielfalt fordern Saatgutverbände und Organisationen schon lange eine Änderung der zwölf EU-Richtlinien zur Saatgut-Marktordnung. Bisher allerdings ohne konkreten Erfolg.
Wenige Saatgutkonzerne beherrschen den Markt und diktieren unsere Ernährung
Nur einige Großkonzerne beherrschen den Saatgutmarkt und diktieren die Bedingungen der Welternährung. Hierzu gehören zum Beispiel Monsanto, DuPont und Syngenta, die zusammen allein über die Hälfte des Marktes dominieren. Die Konzerne melden auch immer mehr Patente auf gentechnisch verändertes und natürliches Saatgut an. Die Patente der Konzerne machen auch vor Lebensmitteln wie Futtermittel für Tiere, Fleisch, Milch oder Eiern nicht halt. Monsanto hat sogar Schutzrechte auf Kekse angemeldet, die gentechnisch verändertes Soja des Unternehmens enthalten. Die Wahlfreiheit der Konsumenten wird so immer mehr eingeschränkt, die Abhängigkeit gegenüber diesen Konzernen steigt.
Die Übernahme des Saatgutherstellers Monsanto durch die deutsche Bayer AG dürfte die Machtstellung der Agrarkonzerne und Hersteller von Pflanzenschutzmitteln noch weiter begünstigen. Denn die Kombination von Saatgut in Verbindung mit dem richtigen Pflanzenschutzmittel für die industrielle Massenproduktion ist ein äußerst lukratives Geschäft.
Verbrauchermacht statt Ohnmacht – Was Konsumenten für mehr Vielfalt tun können
Was können wir gegen abnehmende Vielfalt und zunehmende Abhängigkeit unserer Ernährung als Konsumenten tun? Wenn wir verhindern wollen, dass wir in Zukunft im Supermarkt nur noch eine Apfel-, Tomaten- oder Nudelsorte zur Auswahl haben, wie die aktuelle Werbekampagne von Aldi “Einfach ist mehr” uns mit Werbesprüchen wie “einfach einkaufen – kein Kopfzerbrechen” nahelegt, der sollte die Herkunft der angebotenen Lebensmittel erst recht hinterfragen. “Köpfchen gefragt” sollte daher unser Konsum-Motto heißen, denn wir können mit unserer täglichen Konsumentscheidung wirkungsvoll auf die Entwicklung unserer heimischen Vielfalt einwirken.
Konkrete Tipps für Verbraucher
- vermehrt bewusst alte Obst- und Gemüse-Sorten auf regionalen Märkten und in ausgewählten Supermärkten nachfragen
- biologisch produzierte Lebensmittel in Bio-Supermärkten, auf dem heimischen Markt oder direkt beim Bio-Bauern einkaufen, weil diese nicht industriell hergestellt werden
- regionales und saisonales Obst und Gemüse auf Märkten oder bei nahe gelegenen Bauernhöfen kaufen
- alte Obst- und Gemüsesorten selber im Garten oder auf dem Balkon anpflanzen
- wer keinen Garten hat kann zum Beispiel bei Gartenglück oder anderen Pächtern von Freiland-Gemüseflächen selber anpflanzen und sich dort beraten lassen
- gewonnenes Saatgut seltener Sorten weitergeben an Freunde und Bekannte
- konventionelles Gemüse rätselhafter Herkunft hinterfragen und meiden
- Saatgutsouveränität Kampagne: http://www.saatgutkampagne.org/PDF/Saatgutkampagnen-Info_Nr_30.pdfKonvention über die biologische Vielfalt: https://www.cbd.int/
- Verein zur Erhaltung der Nutzpflanzenvielfalt: http://www.nutzpflanzenvielfalt.de/
- Sicherung der biologischen Artenvielfalt in Europa: http://www.save-foundation.net/de/
- Bundesamt für Naturschutz zum Thema Agrobiodiversität: https://www.bfn.de/fileadmin/MDB/documents/presse/16-Agrobiodiversitaet.pdf
- Schweizer Obstverband: http://www.swissfruit.ch/de/frage/wie-viele-apfelsorten-gibt-es%3F
- Das Bergische Projekt zur regionalen Förderung der Agrobiodiversität: http://www.vielfalt-lebt.de/index.php?id=107
- 3sat Film zu “Wo sind die guten alten Sorten”: http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=61154
- Altes Saatgut – Bezugsquellen, Übersicht: http://www.die-welt-ist-im-wandel.de/Aussteigerleben/Altes-Saatgut-Bezugsquellen.htm oder http://www.saatgutkampagne.org/Linkliste_Wo-gibts-Saatgut.html
Interessante Artikel zum gleichen Thema: