Achtsamkeitskurse boomen — ob als mehrwöchiger Kurs in der Stadt, in einer Stressklinik auf dem Land oder im Entspannungsurlaub. Was bewegt sich in uns, wenn wir drei Tage fernab von jedem Stress sind? Ohne Handy, Internet und andere Ablenkung? Und: Haben 72 Stunden Achtsamkeit nachhaltig positive Auswirkungen auf unseren Stresslevel im Alltag?
Samstagmorgen, 5 Uhr 30. Vor einer halben Stunde bin ich aufgestanden, jetzt sitze ich zusammen mit rund 25 Nonnen und einigen Laien bei der morgendlichen Meditation. Die Töne der riesigen Klangschale schwingen immer noch nach in mir.
Seit gestern bin ich hier, im Europäischen Institut für Angewandten Buddhismus (EIAB) in Waldbröl, im Oberbergischen in Nordrhein-Westfalen. Mit jeder Stunde stellt sich etwas mehr von der inneren Ruhe ein, die mir im Alltag oft abhandenkommt.
Rund 50 buddhistische Mönche und Nonnen leben an diesem Ort und üben sich täglich darin, bei allem, was sie tun, denken und sagen, wirklich achtsam zu sein, präsent in jedem Augenblick. Immer wieder in den Körper zu spüren und den Atem wahrzunehmen, selbst in stressigen Momenten. Sie geben Seminare und bieten ebenso die Möglichkeit, ein Wochenende oder eine Woche mit ihnen zu verbringen und die Achtsamkeit damit auch stärker in den eigenen Alltag zu integrieren.
Gegründet wurde das EIAB 2008 vom buddhistischen Mönch, Zen-Meister, Poet und Friedensaktivisten Thich Nhat Hanh, der bereits 1982 in Frankreich die buddhistische Gemeinschaft „Plum Village“ gegründet hat, in der er seitdem lebt. Gibt er im Sommer einen seiner Achtsamkeitskurse im EIAB, zieht es über 1000 Menschen nach Waldbröl.
Achtsamkeit rund um die Uhr im buddhistischen Zentrum EIAB
Achtsam zu sein, bedeutet wirklich im Hier und Jetzt zu leben und sich bewusst darüber zu sein, was in uns selbst und um uns herum vor sich geht.
Die Achtsamkeit hilft, sich nicht im immer gleichen Reaktionsmustern zu verstricken und statt negative Gedanken und Gefühle weiter zu verstärken, bewusst mit dem jetzigen Moment in Kontakt zu treten — denn dieser ist in Wirklichkeit meist viel weniger dramatisch, als wir ihn uns in unserem Kopf ausmalen. Auf diese Weise wird es möglich, jedem Moment frisch und unvoreingenommen zu begegnen, das Leben intensiv zu erfahren und Stress zu reduzieren.
Achtsamkeit ist die zentrale Praxis im EIAB und Grundlage der buddhistischen Lehre. Diese Praxis beginnt hier jedoch nicht erst mit der Meditation um 5 Uhr 30. Bereits beim Aufwachen blickt man auf ein kleines Schild neben dem Bett: „Ich wache auf und lächle. 24 frische Stunden liegen vor mir. Ich will jeden Augenblick des Tages vollkommen bewusst leben und alle Menschen mit Güte und Mitgefühl betrachten.“.
Ähnliche Sätze laden auch im Badezimmer zu achtsamem Zähneputzen und einer Meditation auf der Toilette ein. An der Zimmertür steht: „Ich atme ein und entspanne meinen Körper. Ich atme aus und lächle. Ich bin ganz im Hier und Jetzt und weiß: Dies ist ein wunderbarer Augenblick.“ Zugegeben, anfangs sind die Hinweisschilder noch etwas gewöhnungsbedürftig, doch sie werden schnell zu hilfreichen Erinnerungen am Tag.
Achtsame Meditation, Essen in Stille, Erleben mit allen Sinnen
Nach Meditation und Körperübungen am Morgen beginnt das Frühstück. Wenn die Glocke geschlagen hat, ist das Frühstück eröffnet. Sowieso, die Glocke — sie ertönt alle 15 Minuten und augenblicklich ersterben alle Gespräche und Bewegungen für einen Augenblick. Was denke ich gerade? Wie fühle ich mich? Bin ich wirklich präsent? Nach einem Moment des Innehaltens geht es weiter.
Von abends an bis nach dem Frühstück am nächsten Morgen herrscht „Edles Schweigen“ im EIAB und so läuft die Kommunikation am Tisch vor allem non-verbal ab: Ein Lächeln zum Gegenüber, eine leichte Verbeugung mit vor der Brust gefalteten Händen zum Tischnachbarn. Ich genieße die Stille sehr, kein Smalltalk über vermeintlich wichtige Themen, stattdessen kann ich mein Essen mit allen Sinnen wahrnehmen und statt meiner Sorgen im Kopf wirklich den Brokkoli kauen.
Essen und Kochen sind ebenso wie das Sitzen auf dem Bänkchen Formen der Meditation: Werden sie achtsam ausgeführt, schult sich dadurch unsere Präsenz im Alltag und unser Erleben mit allen Sinnen. Nach und nach sehe ich nicht mehr nur die Karotte auf meinem Teller, sondern auch all die Menschen, die sie angepflanzt, geerntet und zubereitet und somit erst ermöglicht haben, dass ich sie heute essen kann. Dankbarkeit und Wertschätzung breiten sich in mir aus.
Jeder Moment ist eine Einladung zur Achtsamkeit
Diese Wertschätzung ist überall im EIAB zu spüren. Begegne ich jemandem auf dem Flur, lächeln wir einander freundlich an — achtsam, präsent. Es ist ein Lächeln, das sagt: „Ich sehe und schätze dich, so wie du bist.“ Das ist etwas, was ich im Alltag oft vermisse. Wie selten wagen wir es, jemanden anzulächeln? Wie häufig sind wir so sehr in unsere Gedanken und Pläne verstrickt, dass wir gar nicht bemerken, was um uns herum geschieht?
Dass jeder Tag eigentlich aus einer steten Aneinanderreihung von Möglichkeiten besteht, Achtsamkeit zu üben, zeigen die Mönche und Nonnen immer wieder: Achtsames Essen, bewusstes Gehen bei der Gehmeditation am Vormittag, achtsames Arbeiten am Nachmittag.
Ob Möhren schneiden, telefonieren, miteinander sprechen, singen, putzen oder abwaschen — alles geschieht achtsam. Letztendlich geht es nicht (nur) um die zwei Stunden auf dem Meditationskissen am Tag, sondern vor allem darum, die in dieser Zeit erfahrene Stille, Präsenz und Achtsamkeit auch in jede Aktivität des Alltags einzubringen.
Einfach sein — ohne Handy, ohne Internet
Ich genieße die Tage ohne Handy und Internet sehr. Schaue ich sonst mehrfach am Tag nach meinen E-Mails, habe ich hier plötzlich gar kein Bedürfnis mehr danach. Scheint es mir sonst oft unmöglich, wirklich einmal gar nichts zu tun, kann ich hier wunderbar sitzen und einfach meinem Atem lauschen oder in Ruhe einen Tee trinken.
Es ist sehr inspirierend, lauter Menschen um sich zu haben, die alle ebenso ihr Bestes geben, möglichst achtsam zu sein — die wirklich zuhören in einem Gespräch, sehen, wo es Hilfe braucht oder einen mit einem Lächeln zurück aus dem eigenen Gedankenchaos voller Sorgen und Ängste holen.
Plötzlich tue ich Dinge, die ich mich Zuhause nicht trauen würde: Ich gehe freiwillig zu einer Chorprobe und bin begeistert bei den täglichen Sing-Treffs der Nonnen und Mönche mit dabei. Auch das ermöglicht die achtsame Wertschätzung hier im EIAB — einfach ich selbst zu sein, das zu tun, was mir Freude macht, ohne mir den Kopf darüber zu zerbrechen, was andere über mich denken könnten.
Was ich durch die Zeit im Meditationszentrum gelernt habe
Was bleibt nun nach solch drei Tagen in Achtsamkeit? Als ich am Sonntagabend wieder nach Hause fahre, ist da vor allem Lust dranzubleiben, die Achtsamkeit noch stärker als bisher in meinen Alltag zu integrieren. Sehr hilfreich sind dabei die kleinen Hinweisschilder geworden, die nun auch meine Wohnung zieren.
Am Arbeitsplatz erinnert mich eine virtuelle Glocke der Achtsamkeit immer wieder daran, wirklich präsent zu sein. Tief berührt hat mich auch die Erfahrung, wie wohltuend ein achtsames Lächeln sein kann. Wie viel mehr ich wahrnehmen kann, wenn ich in Stille esse. Wie intensiv ich mit meinen Mitmenschen kommunizieren kann, ohne ein Wort zu sagen — nur durch Blicke, Gesten und Lächeln.
Letztendlich ist es einfach: Einatmen, ausatmen und wirklich im Moment ankommen. Die Füße auf dem Boden spüren, den ganzen Körper wahrnehmen und wieder präsent sein. Sein, in jedem Augenblick.
Gleichzeitig spüre ich bereits nach einer Woche, wie schwierig es ist, in einer Welt voller Fernsehen, digitaler Medien, Lärm, Stress und Hektik, wirklich diese achtsame Ruhe, Freude und Präsenz des EIABs beizubehalten. Doch ja, es funktioniert schon leichter als vorher — das Lächeln in der Fußgängerzone, das achtsame Gespräch in der Familie oder auch die Pause für mich selbst an einem Arbeitstag voller Termine. H
abe ich mich dann doch mal wieder im Tun verloren, fällt es mir jetzt leichter, kein großes Drama daraus zu machen, sondern den nächsten Augenblick als neue Einladung zur Achtsamkeit zu nehmen.