Seit der Film Embrace – Du bist schön in den Kinos läuft, wird der Begriff Bodyshaming viel diskutiert. Der Dokumentarfilm der Australierin Taryn Brumfitt (Co-Produzentin ist Nora Tschirner) portraitiert Frauen, die unter ihrem vermeintlich nicht idealen Äußeren extrem leiden oder von anderen verurteilt werden. Die Gründe dafür sind vielfältig, die Lösung des Problems ebenso. evidero-Redakteurin Jutta Echterhoff hat die Paar- und Sexualtherapeutin Miriam Kegel gefragt, warum viele Frauen so hart über sich urteilen, worin die Ursachen liegen und vor allem, wie Frauen einen Weg finden, ihren Körper so zu lieben und zu akzeptieren, wie er ist.
Liebe Miriam, hast du den Film Embrace schon gesehen? Was hat dich berührt?
Natürlich habe ich diesen Film gesehen. Ich bin bereits vor mehreren Monaten durch einen Zufall auf die Frau, die hinter dem Film steckt – Taryn Brumfitt – die mit ihrem umgekehrten Vorher-Nachher Bild wie ein Blitz eingeschlagen hat, aufmerksam geworden. Den Film habe ich selbst vorab auf meiner facebook-Seite intensiv beworben, da die Botschaft des Films meiner eigenen Herzensbotschaft und meinem eigenen Herzensprojekt für Frauen zu 100 Prozent entspricht. Ich wollte unbedingt dazu beitragen, dass möglichst viele Frauen diesen Film sehen.
Mich hat der ganze Film von der ersten bis zur letzten Sekunde tief berührt. Weibliche Schönheit als losgelöst von einer idealtypischen Figur zu betrachten, ihre Vielseitigkeit wertzuschätzen und Frauen dabei zu unterstützen, sich so schön zu fühlen, wie sie sind – all das sind Botschaften, für die ich mich selbst seit zwei Jahren intensiv in der Öffentlichkeit einsetze.
Die Botschaft, dass wir Frauen vielseitig sein dürfen und dass Schönheit nicht etwas ist, dass wir uns permanent mühselig erarbeiten müssen, ist so unendlich wichtig, dass ich zutiefst dankbar für diesen Film bin, der hier endlich das Statement setzt, das sich wirklich in uns Frauen verankern sollte.
In dem Film hat mich jedes einzelne Interview, jede persönliche Leidensgeschichte, ebenso, wie ich es auch in meiner therapeutischen Arbeit mit Frauen erlebe, sehr bewegt. Es trifft mich immer wieder zutiefst, wenn Frauen mir beschreiben, dass sie sich einfach in ihrem Körper nicht schön fühlen können oder im schlimmsten Fall sich selbst tatsächlich als hässlich und abstoßend beschreiben.
Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper betrifft Frauen und Männer
Spiegelt der Film auch deine Erfahrung als Paar- und Sexualtherapeutin wider? Ist der Film realistisch?
Der Film ist absolut realistisch. In meiner Tätigkeit als Therapeutin habe ich mit sehr vielen Frauen zusammengearbeitet. Die Anzahl der Frauen, die tatsächlich gesagt haben, dass sie mit ihrem Körper zufrieden sind, kann ich an einer Hand abzählen. Alle anderen sahen sich mit „Schönheitsmakeln“ versehen.
Die Fokussierung auf das vermeintlich Nicht-Schöne am eigenen Körper und die damit verbundene Beeinträchtigung des eigenen Selbstwertgefühls ist ein riesen Thema für Frauen.
Und dabei ist es meiner Erfahrung nach egal, wie sehr die Frau den gängigen Modelmaßen entspricht. Es wird immer das gesehen und immens negativ bewertet, das vom „perfekten Bild“, das die Modebranche und die Medien uns Frauen konsequent vermitteltn, abweicht. Ich finde das unendlich traurig.
Woran liegt es denn genau, dass so viele Frauen unzufrieden sind mit ihrem Körper?
Nun, wir kommen ja nicht mit einer Unzufriedenheit mit uns selbst auf die Welt. Als Kind machen wir uns wenig Gedanken um unser Aussehen. In der Jugend beschäftigen wir uns in der Regel mehr mit unserer Wirkung auf andere und oft wird hier schon eine tiefe Verunsicherung angelegt.
Für viele Frauen, aber auch Männer, ist dies eine besonders sensible Phase. Wenn man in diesem Alter auf eigene Äußerlichkeiten entweder auf abwertende oder auch auf grenzüberschreitende Weise („Du hast aber große Brüste/einen dicken Hintern bekommen“) angesprochen wird, führt dies zu einer psychischen Überforderung, die dann häufig in eine Ablehnung des eigenen Körpers mündet. Hier beginnt dann als vermeintlicher Lösungsversuch, negativen Reaktionen zu entkommen, der Kampf mit dem eigenen Körper.
Dazu kommt, dass in unserer Gesellschaft ein absolutes Schönheitsdiktat für Frauen besteht, von dem wir kontinuierlich umgeben sind. Und das nimmt so viel Raum ein, dass es wirklich schwer ist, sich dagegen zur Wehr zu setzen. So wird einem im Frühling durch sämtliche Werbekanäle konsequent vermittelt, dass es jetzt aber wirklich allerhöchste Zeit für die „Bikinifigur“ zu widmen. Man kann sich diesem Druck ja fast gar nicht entziehen.Es gibt nicht die Botschaft, dass wir auch im Sommer einfach so bleiben können, wie wir sind. Wir Frauen dürfen prinzipiell nicht einfach nur SEIN. Wir müssen uns permanent mit unserem Aussehen beschäftigen, damit wir es irgendwann vielleicht endlich mal schaffen annähernd „perfekt“ zu sein.
Davon lebt die Mode- und die Schönheitsindustrie mit ihren zahlreichen Produkten, die uns ermöglichen sollen, uns endlich von unseren zahlreichen Mängeln zu befreien. Keine Falten, kein Fett, keine Cellulite, keine Augenringe – irgendwann, so die Verheißung, wenn wir genug kaufen und uns genug anstrengen, haben wir jegliches unserer Defizite endlich ausgeräumt und können glücklich sein.
Eine erst in den letzten Monaten veröffentlichte Antifaltenwerbung bringt die Message der Schönheitsindustrie griffig auf den Punkt: „Ich sage Dir jetzt was wichtig ist: Keine Falten im Gesicht!“
Schon junge Mädchen im Alter von 5 bis 12 Jahren geben an, abnehmen zu wollen. Wie siehst du diese Entwicklung?
Wenn ich überlege, wie bereits in meiner Jugend die Entwicklung von Essstörungen bei uns jungen Mädchen um sich gegriffen und auch vor meiner Person nicht halt gemacht hat, finde ich diese Entwicklung natürlich hoch problematisch. Wir Menschen entfernen uns meiner Meinung nach immer weiter von unserer Natürlichkeit. Der Körper wird zunehmend nur noch von außen wahrgenommen statt von innen heraus.
Dies kann nur zu immer weiteren Problemen führen, da wir uns immer weiter davon entfernen, auf die Bedürfnisse unserer Körpers zu achten. Eine ähnliche Entwicklung sehe ich übrigens im Bereich der Sexualität junger Menschen. Ihre Vorstellung von Sexualität beruht immer mehr auf konsumierten Pornobildern, anstelle eines natürlichen direkten zwischenmenschlichen Erlebens, aus dem heraus der Körper erkundet wird.
Wie hilfst du konkret Frauen, ihren Körper zu schätzen und zu lieben, so wie er ist?
Neben meiner Arbeit als Therapeutin habe ich unter dem Namen weiblich Schön ein neues psychologisches Konzept entwickelt, in dem ich Frauen auf ganz unterschiedlichen Wegen wieder beibringe, ihren Körper wieder als das wahrzunehmen, was er ist: Ein Schatz voller – bildlich gesprochen – Schmuckstücke an Möglichkeiten, mit denen wir uns bereichern können.
Im Kern geht es in meinem Konzept darum, Frauen wieder dabei zu unterstützen ihren Körper von INNEN wahrzunehmen und ihren Körper wirklich selbst einzunehmen und zu besitzen!
Den Körper wieder zu unserem ureigenen Instrument zu machen, statt ihm eine Modelschablone aufzuzwingen, das ist das übergreifende Ziel meiner Körperarbeit mit Frauen. Und da gibt es unendlich viel zu entdecken: Beim Catwalktraining zeige ich Frauen, wie sie einen stolzen Gang entwickeln können, durch den sie sich direkt selbstbewusster fühlen, beim Schlagfertigkeitstraining geht es darum, wie uns unser Körper dabei helfen kann, stark zu sein und Angriffe abzuwehren, im erotischen Tanz zeige ich Frauen wieviel Verführungskraft und Erotik in ihren Kurven steckt und in meinem Workshop Venusgeflüster befassen wir uns intensiv mit den zahlreichen Lustquellen des weiblichen Körpers, die vielen Frauen gar nicht bekannt sind.
Für mich gehören all diese Facetten und vielschichtigen Ebenen zu unserer weiblichen Schönheit und all das ist einfach da! Es wartet nur darauf, entdeckt zu werden. Es muss nicht erst erarbeitet und in Form gebracht werden.
Kann man denn wirklich mit dem Trainieren eines stolzen Ganges oder erotischem Tanz mehr Selbstbewusstsein erlernen und dadurch, sich selbst mehr zu lieben? Liegen die Gründe für eine nicht vorhandene Selbstliebe nicht viel tiefer verborgen?
Nun, hier ist zunächst die genaue Begriffsklärung wichtig. Das Wort Selbstbewusstsein bedeutet ja eigentlich, dass ich mir eben meiner selbst bewusst bin. Über diese Fähigkeit verfügen Frauen meiner Erfahrung nach in hohem Maße. Frauen denken unheimlich viel über sich selbst und ihr Verhalten nach und sind damit im wahren Wortsinn bereits viel selbstbewusster, als sie meinen.
Selbstliebeist aus meiner Sicht definitiv etwas, das erlernt, kultiviert und gepflegt werden kann. Es gibt hier viele, viele kleine Puzzlesteine, die ich einsetzen kann, um meine Selbstliebe immer weiter zu stärken. Selbstliebe ist also nicht entweder vorhanden oder nicht vorhanden, auch wenn es manchmal so scheint, sondern sie kann gestaltet werden.
Ich kann durch meine eigenen Handlungen ganz immens dazu beitragen, mir selbst immer mehr Wert zu geben und dabei auch ganz unterschiedliche Wege gehen. So wie es eben für mich am passendsten erscheint.
- Ich kann anfangen, mich mehr um mich und meine Bedürfnisse zu kümmern
- Ich kann anfangen, meinen Körper liebevoller zu behandeln
- Ich kann mich gegen selbstschädigende Muster entscheiden
- Ich kann anfangen, aufrecht zu gehen und mich zu zeigen, statt mich zu verstecken
- Ich kann anfangen, mich zur Wehr zu setzen, wenn ich angegriffen werde
- Ich kann mir einen persönlichen Wohlfühlort gestalten
- Ich kann beginnen, mich regelmäßig zu loben für alles, was ich schaffe und gut mache
- Ich kann anfangen, anderen Grenzen zu setzen und und und…
Es gibt unendlich viele Möglichkeiten, um mehr Selbstliebe zu entwickeln, egal von welchem Ausgangspunkt man anfängt.
Auch wenn Verletzungen tief liegen, heißt es nicht, dass sie nicht heilen können und man sein Leben nicht positiv beeinflussen kann. Das eigene Selbstwertgefühl ist definitiv veränderbar und das Grundprinzip ist hierbei immer, mit sich selbst wohlwollender umzugehen.
Und dazu gehört auch die Entwicklung von Selbstliebe nicht zu einem weiteren Leistungsthema zu machen, mit dem ich mich dann wieder unter Druck setzen oder selbst ärgern kann („Jetzt habe ich es wieder nicht geschafft, mich selbst mehr zu lieben“). Wir dürfen nie vergessen, dass es nicht permanentes Selbstbewusstsein und immer währende Selbstliebe gibt. Alles unterliegt Schwankungen!
Was wir lernen können ist aber, uns immer mehr mit allen Aspekten unseres Seins anzunehmen. Das ist wahre Selbstliebe! Uns auch tröstlich und wohlwollend zuzusprechen, wenn wir Tage haben, wo wir uns gar nicht selbstsicher oder wohl in unserer Haut fühlen.
Laut “Embrace” sind 91 Prozent aller deutschen Frauen mit ihrem Körper unzufrieden
1. Muss weibliche Schönheit insgesamt und körperliche Schönheit als etwas verstanden werden, das vielschichtige Ebenen hat und nicht nur Optik ist! Wenn ich verstehe, dass ich keine Hülle bin, die nur dazu da ist, anderen zu gefallen und sich an einer vermeintlichen Idealform zu messen, sondern dass mein Körper allein mir gehört und ich ihn zu meinem persönlichen Instrument dessen, was ich tun und erleben möchte, machen kann, dann bin ich auf dem richtigen Weg um in bedingungsloser Liebe zu mir anzukommen.
2. Muss sich meiner Meinung nach der Dauerdruck, der in den Medien erzeugt wird, die Verneinung weiblicher Vielfalt, das Schablonendenken verändern. Da hier aber mit dem Kampf um ein Schönheitsideal unheimlich viel Geld gemacht wird, müssen wir Frauen meiner Meinung nach hier auch selbst ansetzen. Solange wir Frauen selbst auf diese Maschinerie hereinfallen und hier unendlich viel Geld und Aufmerksamkeit investieren, statt uns mit uns selbst und der Weiterentwicklung unserer Fähigkeiten zu befassen, wird sich wenig ändern. Wir müssen selbst ansetzen und neu entscheiden, was wir schön finden! Ich finde weibliche Vielfalt schön.
Wie wichtig ist die Selbstliebe für die eigene Beziehung und Sexualität?
Das ist schwer pauschal zu beantworten, da die Zusammenhänge komplex sind. Natürlich ist es so, dass eine chronische Unzufriedenheit mit sich selbst eine Partnerschaft sehr belasten kann, da ich dann einfach nicht glücklich bin, was der Partner dann entweder durch die eigenen negativen Stimmungen oder auch übertriebene Erwartungen an die Partnerschaft zu spüren bekommen kann.
Je zufriedener ich selbst bin, umso weniger muss eine Partnerschaft im negativen Sinne ausgleichen und umso mehr Raum ist natürlich auch für positive und schöne Erlebnisse da, da sich die Aufmerksamkeit anders konzentriert.
Ein gutes Beispiel ist hier tatsächlich die sexuelle Ebene. Hier erlebe ich immer wieder in meiner sexualtherapeutischen Arbeit, dass bei vielen Frauen die Aufmerksamkeit auf der Wahrnehmung ihrer körperlichen Defizite liegt. Dies blockiert dann natürlich immens das eigene Lusterleben, aber auch das Gefühl für die Verbindung zum Partner. Über das Kreisen um die eigenen Unzulänglichkeiten bleibt dann tatsächlich die Liebe zum Partner, der ja in diesem Moment quasi ausgeblendet ist, auf der Strecke.
Mir ist aber auch wichtig zu sagen, dass gerade da Selbstliebe etwas Veränderbares ist – hier oft auch Partnerschaften ein ganz wichtiger Motor sind, der zu positiven Veränderungen führen kann. Oftmals hilft uns gerade der Spiegel eines liebendes Partners auch dabei, uns selbst in einem viel schöneren Licht zu sehen und besser mit uns umzugehen.
Genauso gibt der Wunsch, eine Partnerschaft zu erhalten uns Menschen oft den Anstoß uns damit auseinanderzusetzen, wie wir Verletzungen aus der Vergangenheit hinter uns lassen und eben zu mehr Selbstliebe kommen können. Partnerschaften sind in jedem Fall ein Treibstoff für unsere persönliche Weiterentwicklung, wenn wir dazu gewillt sind.
Vielen Dank für das Interview!