Um Gewalt zu begegnen, ist es gut, Gewalt zu verstehen. Dabei darf es nicht nur um die Aggressionen der anderen gehen, sondern auch um die Wut im eigenen Bauch. Deeskalations-Trainer Ulrich Krämer arbeitet mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen und hilft, die eigenen Aggressionen in den Griff zu bekommen. Hier sind einige seiner Erkenntnisse.
“Er kann nichts dafür, er hatte eine schwere Kindheit”. Diesen Spruch hört man bei Gewalttätern immer wieder. Und auch wenn er keine Entschuldigung ist, ist es natürlich eine Tatsache, dass Gewalt meistens nicht aus dem Nichts entsteht.
Körperliche Gewalt hat immer eine Vorgeschichte
Manche Menschen können sich nur schwer kontrollieren oder haben kein Ventil gefunden, mit dem sie ihre ständige Anspannung loswerden – bei ihnen können Konflikte schnell eskalieren. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass sie auch körperlich gewalttätig werden!
Körperliche Gewalt hat tatsächlich nichts damit zu tun, was bei Wut im Körper geschieht (wie etwa die Ausschüttung von Adrenalin), sondern ist eine erlernte Verhaltensweise. So wird etwa aggressives Verhalten der Eltern oder des Umfeldes adaptiert. Wer körperliche Gewalt gegen sich erfahren hat, wird selbst schneller gewalttätig, denn er sieht körperliche Gewalt als Option, einem Konflikt zu begegnen.
Die meisten Menschen, die nicht unbedingt eine starke gewalttätige Biographie haben, haben eine ausgeprägte Hemmschwelle davor, Gewalt anzuwenden. Bevor sie jemandem mit der Faust ins Gesicht schlagen, müssen vorher meist noch andere Hemmschwellen fallen. Das kann zum Beispiel so aussehen:
- Verbale Übergriffe, Rumpöbeln, Beleidigungen
- Schubsen und Anrempeln
- Ohrfeigen, Schläge mit der flachen Hand ins Gesicht oder an den Kopf
- Faustschläge ins Gesicht
Bei jeder dieser Eskalations-Ebenen kann der Gewalttätigkeit theoretisch Einhalt geboten werden. Je häufiger diese einzelnen Hemmschwellen fallen, desto leichter werden sie in Zukunft wieder überschritten. Hat ein gewaltbereiter Mensch seinem Opfer einmal ins Gesicht geschlagen und es damit gedemütigt, wird das wahrscheinlich auch ein weiteres Mal passieren.
Wie reagiere ich auf Gewalt am besten?
Wenn ich Aggressionen von anderen Menschen erfahre, muss ich selbst die Grenze ziehen, ab welchem Punkt ich mit diesen Menschen nicht mehr kommuniziere oder mich aus Konflikten sofort zurückziehe.
Ist es in einem Konflikt zu Schubsen und Rempeln gekommen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass bei einem erneuten Konflikt Ohrfeigen hinzu kommen können.
Wenn ich bei mir selber feststelle, dass manche Menschen mich dazu bringen, Hemmschwellen überschreiten zu können, sollte ich mir mit kühlem Kopf eine Strategie überlegen, wie ich der Situation entfliehe, ohne zu weit zu gehen. Es ist besser, Türen zu knallen, als jemanden zu schlagen.
Veränderte Selbstwahrnehmung durch Suchtmittel kann Hemmschwellen senken
Es ist nichts Neues, dass Menschen unter Alkoholeinfluss schneller gewalttätig werden. Das kennen wir von Hooligans beim Fußball oder auch von Kneipen-Schlägereien.
Das liegt vor allem an einer veränderten Selbstwahrnehmung: Man fühlt sich stärker, heldenmäßig und entwickelt eine Art Tunnelblick. Durch diesen nimmt man nur noch selektiere Informationen wahr, zum Beispiel: Meine Kumpels finden es auch gut, was ich gerade mache. Der Blick auf die gesamte Situation fehlt und die Konsequenzen des eigenen Handelns sind nicht mehr sichtbar.
Unter Alkoholeinfluss kann sehr schnell eine Eskalationsstufe erreicht werden, bei der es nur noch darauf ankommt, den anderen möglichst schnell auszuschalten oder ruhig zu stellen, um selber keine Anfeindung mehr zu erfahren. Es geht also um Vernichtung des Konfliktes mit allen Mitteln.
Ein sehr typisches Merkmal für Gewalt unter Alkoholeinfluss ist, dass es den Tätern hinterher häufig leid tut. Und das sagen sie nicht einfach nur so, es stimmt tatsächlich. Mit klarem Kopf würden die meisten sagen: “So etwas würde ich niemals tun”. Viele schämen sich sogar, wenn ihnen klar wird, was sie getan haben.
Wie reagiere ich auf Alkohol-Gewalttaten?
Wenn ich Anfeindungen von Menschen unter Alkoholeinfluss erlebe, zum Beispiel vom Partner, muss ich konsequent sein und darf mich auf reine Entschuldigungen nicht einlassen. Ja, es tut ihm oder ihr wirklich leid. Das reicht nicht.
Auch hier gilt: Ist eine Grenze erst einmal überschritten, wird dies immer wieder geschehen. In diesem Fall hilft nur eine Therapie und – bei einer Sucht – ein Entzug.
Wenn ich bei mir selbst erlebe, dass Alkohol oder andere Suchtmittel mich aggressiver machen, sollte ich schnell Grenzen und Konsequenzen ziehen. Nicht jeder Mensch reagiert auf Alkohol gleich. Vielleicht bringt er auch etwas zu Tage, das in mir schlummert und erst durch den Alkohol hervorbricht. Es ist keine Schwäche, sich Hilfe zu suchen.
Im Gegenteil: Es erfordert Mut, zuzugeben, dass man eine Situation nicht mehr unter Kontrolle hat. Lass dich davon nicht abhalten.
In die Gewalt getrieben – Aggressionen als Reaktion auf Frust und Enttäuschung
Vielleicht kennst du das Lied von den Ärzten “Schrei nach Liebe”. Darin heißt es “Deine Gewalt ist nur ein stummer Schrei nach Liebe” und das ist tatsächlich gar nicht abwegig. Vor allem, wenn man sich Kinder und Jugendliche ansieht, kann man dieses Phänomen feststellen.
Wenn ich keine prosozialen Körperkontakte habe, Streicheleinheiten oder Umarmungen, wenn ich keine Wärme bekomme, dann kann körperliche Gewalt ein Weg sein, mich körperlich anderen zu nähern.
Das Gleiche gilt auch für positive Emotionen im Allgemeinen, beispielsweise in Partnerschaften. Wenn ich immer nur Kritik erfahre, vielleicht sogar mit Liebesentzug oder Sexentzug bestraft werde, ist das Maß irgendwann voll. Wenn ich mir immer nur anhören muss, dass ich nicht gut genug bin, nicht ausreichend Geld verdiene, zu wenig mithelfe und so weiter entsteht irgendwann das Gefühl “Ich reiche nicht aus”.
Unterdrückte Emotionen müssen irgendwann raus
Eine Weile kann man Frustrationen wegstecken, enttäuschte Liebe, nicht erfüllte Erwartungen, ständige Kritik im Job. Doch wer dauerhaft kein Ventil hat, dem platzt irgendwann der Kragen – es kommt zur Eskalation.
Die Eskalation nach außen: Nicht gelebte oder unterdrückte Emotionen können, wenn sie irgendwann nach außen brechen, zu Gewalttätigkeit führen. Auch bei Menschen, von denen man dies nie erwartet hätte. Im Extremfall kann das bedeuten, dass ein Familienvater, der nach außen immer ruhig gewirkt hat und immer alles mit sich machen ließ, plötzlich durchdreht, seine Familie ermordet und sich anschließend selbst tötet.
Die Eskalation nach innen: Wer dauerhaft seinen Frust in sich hineinfrisst, kann irgendwann resignieren und an einer Depression erkranken. Wenn sich Aggressionen nach innen richten und man mit dem Druck nicht mehr fertig wird, kann das im schlimmsten Fall zum Suizid führen. Aufmerksamkeit erregt hat beispielsweise die Selbstmordwelle in Asien 2010, als sich innerhalb weniger Monate 12 Angestellte eines Unternehmens lieber das Leben nahmen, als sich dem Druck weiter auszusetzen.
Wenn ich von Außen mit Situationen konfrontiert werde, die in mir Frust oder Aggressionen entstehen lassen, sollte ich mir frühzeitig ein für mich passendes Ventil suchen. Meine Tipps:
- Entspannungstechniken: Egal ob Yoga, Meditation oder der Spaziergang mit dem Hund, es gibt immer Strategien, wie ich insgesamt ruhiger und entspannter werden kann
- Plan B bereit halten: Wenn ich merke, dass ich langsam rauffahre und wütend werde, ist es gut, bereits einen Plan zu haben, wie ich der Situation entgehe, ohne jemanden zu verletzen. Dazu muss ich sensibel dafür werden, Anzeichen für die eigene Wut rechtzeitig zu deuten. Mögliche Ausweichpläne wären etwa, den Raum zu verlassen, vielleicht auch auf einen Boxsack einzudreschen oder – im Zweifelsfall – immer lieber Gegenstände beschädigen, als Personen gegenüber handgreiflich zu werden.
- Situationen vermeiden: Wenn ich herausfinde, welche Personen oder Situationen mich häufig unter Stress bringen und Aggressionen bei mir auslösen können, kann ich versuchen, diesen Personen aus dem Weg zu gehen und die entsprechenden Situationen zu vermeiden. Stattdessen sollte ich einen Ausgleich für mich finden, etwa ein Hobby, und meine freie Zeit wirklich für mich nutzen.