Dr. med. Christian Kessler, Funktionsoberarzt am Immanuel Krankenhaus Berlin, forscht als Experte für Traditionelle Indische Medizin und Ayurveda. Die Arbeit mit Ayurveda ist für ihn sehr positiv, da das uralte Heilsystem Ayurveda über die Behandlung von Diagnosen und vorhandenen Krankheiten hinausgeht und die Gesunderhaltung in den Vordergrund stellt. Damit ist Ayurveda eigentlich ein moderner Ansatz im Sinne der Prävention und Gesundheitsförderung. Wie klassische und ayurvedische Medzin heute zusammenpassen und miteinander funktionieren können, erklärt uns Dr. med. Christian Kessler in diesem Interview.
Das Interview führt Annette Coumont
Lieber Herr Dr. Kessler, Sie sind Experte für Traditionelle indische Medizin und Ayurveda. Wie würden Sie Ayurveda für uns beschreiben?
Ayurveda ist als traditionelle Medizin Südasiens ein komplexes naturheilkundliches System, das auf der Basis maßgeschneiderter Diagnostik- und Therapiekonzepte die Individualität eines jeden Menschen medizinisch berücksichtigt.
Sie erforschen für die Charité Universitätsmedizin Berlin die Naturheilkunde. Ist Ayurveda für Sie der Königsweg in der Naturheilkunde?
Für mich gibt es nicht DEN Königsweg in der Naturheilkunde oder der Medizin. Mein Medizinverständnis ist das einer integrativen Medizin, das heißt die Verbindung konventioneller und unkonventioneller Therapiemethoden auf der Basis der besten verfügbaren Evidenz. Ayurveda kann als großes und altes Therapiesystem sicher sehr viele wertvolle Beiträge für die globale Medizin leisten.
Ernährung ist ein wichtiger Bereich der naturkundlichen und speziell der ayurvedischen Medizin. Und Sie sind Vegetarier. Führen Vegetarier grundsätzlich ein gesünderes Leben?
Menschen, die sich vegetarisch ernähren, was für sich alleine schon bei einer ausgewogenen vegetarischen Ernährung ein gesundheitsförderlicher Faktor ist, pflegen häufig gleichzeitig auch einen gesünderen Lebensstil an anderen Stellen, zum Beispiel bewegen sie sich häufiger, haben eine positivere Lebenseinstellung, sind empathischer, etcetera.
Es ist mir aber wichtig zu betonen, dass Vegetarier nicht per se bessere Menschen sind oder grundsätzlich gesünder leben. Ich bin kein Fan von pauschalisierenden Aussagen.
Ayurveda und Schulmedizin ergänzen sich für Prävention und Heilung von Krankheiten
Die moderne Medizin hat ihre Grenzen, sie behandelt die Auswirkungen der Krankheit, aber nicht ihre Ursachen. Könnte dies der Grund für den großen Anklang der ayurvedischen Medizin in Europa sein?
Klar – die moderne Medizin hat ihre Grenzen. Es ist mir als Naturheilkundler jedoch auch wichtig zu betonen, dass die Komplementärmedizin mindestens genauso ihre Grenzen hat. Die Diskussion bezüglich der Nachteile ist für mich auch keine besonders produktive und zielführende Diskussion. Anstelle dessen können wir uns lieber auf die Vorteile konzentrieren, vor allem auf die Vorteile der Kombination verschiedener Medizinsysteme, wo auch immer dies sinnvoll und nützlich ist.
Ayurveda liefert über seinen patientenzentrierten und individualisierten Ansatz sicher spannende Beiträge und die Nestwärme der Ayurveda-Medizin bedient bei Patienten häufig Bedürfnisse, die sie in der mitunter recht mechanischen und kühlen Schulmedizin nicht mehr so sehr finden: beispielsweise die Bedürfnisse nach Zeit, Zuhören und Empathie.
Wenn ich bereits die Ursachen der Krankheit bekämpfe, dann müssten eindeutig weniger Menschen erkranken. Ist dies der Vorteil von Ayurveda in Vergleich mit der modernen Medizin?
Wie schon gesagt bin ich der Meinung, dass es uns nicht weiter bringt, Distanzen und Konflikte zwischen den Systemen herbei zu reden und Ayurveda als DIE Lösung für alle Probleme, die die Schulmedizin scheinbar generiert, darzustellen. Das ist Unsinn. Klar ist jedoch, dass die traditionelle indische Medizin gesunde Lebensführung und Prävention seit jeher stark in den Fokus ihrer medizinischen Bemühungen stellt.
Ayurveda ist insofern auch nicht lediglich ein Medizinsystem, sondern eine Gesundheitwissenschaft, die schon früh ansetzt, wenn es noch gar nicht zur Manifestation einer Erkrankung gekommen ist und im Bereich Prävention deshalb starke Beiträge leisten kann.
Prof. Vasant Lad beschreibt die westliche allophatische Medizin als “anti”, schlägt aber vor, die beiden Systeme zum Vorteil des einzelnen Menschen zu kombinieren. Können Sie uns sagen, ob das bei Ihrer Arbeit eine Rolle spielt?
Der Begriff der “allopathischen Medizin” kommt aus der Homöopathie und ist dort ein Kampfbegriff für die konventionelle Schulmedizin. Deswegen benutze ich diesen Begriff nie, da ich neben meiner naturheilkundlichen und ayurvedischen Tätigkeit auch vollkommen überzeugter Schulmediziner bin. Durch unideologisches Kombinieren verschiedener sinnvoller Therapieelemente können wir Synergien herstellen, die wir uns für unsere individuellen Patienten nutzbar machen können. Genau das ist ein wesentlicher Bestandteil der integrativen Medizin.
Die indische Heilkunde Ayurveda kann bei vielen Erkrankungen helfen
Bei welchen Indikationen ist Ayurveda angebracht?
Ayurveda beansprucht für sich, als Medizinsystem generell für Gesundheit und Krankheit zuständig zu sein. Insofern ist Ayurveda auch keine Methode, sondern eben ein System. Vor diesem Hintergrund macht es relativ wenig Sinn, einzelne Indikationen raus zu picken und hier für ins Rampenlicht zu stellen.
Die besten wissenschaftlichen Daten gibt es aktuell für Erkrankung des Bewegungsapparates. Aber auch zu anderen Erkrankungen, zum Beispiel aus dem Bereich der Gastroenterologie, Stoffwechselstörung, psychosomatischen Erkrankung und vielen anderen gibt es zunehmend auch gute erste Hinweise, dass Ayurveda hier ich sinnvolle Beiträge leisten kann. Dennoch sollte weiter geforscht werden.
Können Sie uns Beispiele aus Ihrer Arbeit nennen, bei denen Sie jemandem helfen konnten, dem die westliche Medizin nicht helfen konnte?
Es gibt sehr häufig Patienten, die zu uns in die Naturheilkunde und Ayurveda Ambulanz kommen, die bisher keinen guten Weg gefunden haben, mit ihren gesundheitlichen Problemen umgehen zu können. Dies betrifft vor allem viele Patienten mit Verdauungsstörungen, zum Beispiel dem so genannten Reizdarm, aber auch Patienten mit chronischen Schmerzen, Stichwort Fibromyalgie, und vielen anderen gesundheitsrelevanten Fragestellungen, die aus Sicht der Patienten bisher nicht ausreichend gut durch die konventionelle medizinische Infrastruktur bedient werden konnte.
Haben Sie Tipps für Ayurveda Einsteiger: Wie können wir uns Ayurveda nähern und am besten in unseren Alltag integrieren?
Fangen Sie einfach an! Sie brauchen nicht Inder zu werden, um sich mit Ayurveda zu beschäftigen. Die Prinzipien von Ayurveda sind im Prinzip so abstrakt, dass sie von jedem von uns schon zu Hause in die Praxis umgesetzt werden können. Ein hervorragender Einstieg ist immer über Küche und Kochen.
Machen Sie einen Kochkurs, am besten bei einem Experten, der sich nicht nur mit Kochen auskennt, sondern auch mit den Hintergründen von Ayurveda; kaufen Sie sich ein gutes Kochbuch und wenn Sie danach dann die Lust haben, vielleicht auch einen patiententauglichen Ratgeber zu Ayurveda. Ein weiterer ganz einfacher Typ, aus meiner Sicht ausgesprochen ayurvedisch, ist Achtsamkeit mit sich selbst und Respekt gegenüber allen anderen Lebewesen. Das ist auch schon ein hervorragender Einstieg in die wundervolle Welt und den Weg des Ayurveda.
Herr Dr. Kessler, vielen Dank für das Interview!