Es passiert zur Zeit viel am aufsteigenden Horizont der sich rasant entwickelnden Yoga- und Achtsamkeitsszene. Immer mehr Angebote, wie verschiedene Yogastile, Achtsamkeitscoachings, Konferenzen, Workshops, Ausbildungsangebote, Produkte und Dienstleistungen entwickeln sich rund um das Thema Achtsamkeit. Doch wie sieht Achtsamkeit konkret in unserer gelebten Wirklichkeit aus? Als Autorin des neuen Blogs OMlinemagazin berichte ich nun in regelmäßigen Abständen davon. Heute über die Achtsamkeit als “Anti-Trend Trend” (nach Matthias Horx) und Nachhaltigkeitsmotor für die Wirtschaft.
Für die Trendforscher ist Achtsamkeit ein Anti-Trend Trend
Erst vor kurzen gab es eine Meldung in allen wichtigen Medien: Der Zukunfts- und Trendforscher Matthias Horx hat die Achtsamkeit nicht nur als Trend, sondern als „Anti-Trend Trend“ ausgerufen. Ein Anti-Trend, so folgere ich, ist ein Trend der sich gegen einen anderen Trend richtet.
Aber einen solchen kann ich nicht eindeutig ausmachen, sind es doch schließlich komplexe äußere Vorgänge und deren Unkontrollierbarkeit wie Digitalisierung, kommunikative Reizüberflutung, Globalisierung, weltweite Krisenherde, Flüchtlingsproblematik, Sinnentleerung und drohende Veränderung der Arbeits- und Lebensverhältnisse, die uns überfordern und zur Einkehr ins Innere drängen.
Taugt Achtsamkeit als Trendmotor für neue Produkte, Marketing und Werbung?
Um zu verstehen, warum die Achtsamkeit für den Zukunftsforscher wenn auch anti, aber dennoch ein Trend ist, muss man wissen, dass Herr Horx sozusagen das Orakel für politische Institutionen, Industrie und werbungtreibende Wirtschaft ist. Diese nutzen den Zukunftspionier und seine Mega-Trends gerne, um frühzeitig gesellschaftliche Entwicklungen und Bedürfnisse für neue Konsum-Märkte und -Produkte zu berücksichtigen. Und nur was als echter „Trend“ ausgemacht ist, taugt in der Marketingwelt wirklich für Innovation und Weiterentwicklung und zur Schaffung neuer Anreize auf dem Konsummarkt.
Dabei heißt Achtsamkeit doch eigentlich “(…) sich nicht ständig von Begierden und Ängsten treiben zu lassen, sondern sich der Realität mit Offenheit, Mitgefühl, Toleranz, Geduld und Akzeptanz zuzuwenden (…) Es geht (…) um eine grundlegend andere Perspektive auf die Welt: Statt nur um unsere eigenützigen Interessen, Verluste und Aversionen zu kreisen, weitet man den Blick fürs große Ganze.” (Zitat: Paul Grossmann, Achtsamkeitsforscher, in der Zeit)
Achtsamkeit, Yoga und Meditation sind längst Teil der Gesellschaft
Als ich die Meldung vom neuen Zukunftsreport zum Thema Achtsamkeit las, wunderte ich mich vor allem über die späte Erkenntnis. Denn wie der Zukunftsforscher selbst eingesteht, hat die Achtsamkeit bereits eine steile Karriere hinter sich: sie hat als Keyword bei Google allein über 34 Millionen Treffer. Magazine wie Happinez oder Flow haben sich längst etabliert und im Online Bereich werden Blogs wie fuckluckygohappy.de, oder Magazine wie evidero.de immer beliebter. Seit 20 Jahren steigen die Zahlen der Yogapraktizierenden in Deutschland immer weiter auf mittlerweile über 2,6 Millionen Menschen in Deutschland. Achtsamkeitscoaching in Unternehmen ist ein lukrativer Beratungszweig, und sogar die Krankenkassen haben Achtsamkeitsmethoden, wie MBSR (mindfulness based stress reduction) als erstattungswürdig anerkannt.
In unserem Blog “OMlinemagazin” stellt evidero Autorin Annette Coumont Themen und Trends rund um Achtsamkeit, Yoga und ein bewusstes Leben vor. Wir zeigen euch, wie Achtsamkeit im Alltag, in der Familie, im Job, bei der Ernährung, in der Therapie oder beim Konsum konkret aussehen kann.
Das Bekenntnis zur Achtsamkeit birgt Sprengkraft für transformierende Prozesse
Die Verhaltenheit der Wirtschaft im Umgang mit der Achtsamkeit liegt möglicherweise in der Frage, ob das Thema zur Konsumsteigerung, also zur Gestaltung neuer Produkte und werblicher Aussagen auch wirklich taugt. Hier scheint das verspätete Bekenntnis von Herrn Horx in Sachen Achtsamkeit wie das von Angela Merkel in der Flüchtlingsfrage.
Erst als die Welle der Flüchtlinge bereits ungebrochen über Deutschland hinwegrollte, wurde darauf endlich reagiert. Was also eigentlich schon alle vorher wussten, mussten Frau Merkel und Herr Horx nur einmal laut sagen, damit es auch offiziell anerkannt wird.
Die Menschen wollen innere Freiheit und Authentizität als Rückzugsort von Krisen
Es bleibt wahrhaft fraglich, ob Achtsamkeit als Wachstums- oder Innovationsimpuls für unsere Wirtschaft taugt. Das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderte, inter- und transdisziplinäres Forschungsverbundprojekt BNK (Bildung für nachhaltigen Konsum) untersucht zur Zeit, wie Achtsamkeit sich auf das Konsumverhalten auswirkt. Das Projekt nutzt Achtsamkeit als Methode, um “Menschen zu nachhaltigem Konsumhandeln zu befähigen” und gilt daher als relevanter Hebel zur Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung.
Und immer mehr Menschen wollen schon jetzt nachhaltiger konsumieren. Sie wollen nicht mehr mit immer neuen Produkten und Botschaften traktiert werden, sondern eher Konsumaskese und „digital diet“.
Sie wollen nicht mehr so viel und so schädlich komsumieren (sondern bewusst und nachhaltig), sie wollen langsamer (Slow Food, Slow Living, etc) leben und in Echtzeit genießen (Kochen und DIY) und dabei möglichst die Umwelt schonen. Sie wollen das echte Leben zurück (am liebsten ganz analog) und sehnen sich nach einem höheren Sinn (Spiritualität). Sie wollen Authentizität in ihrer Lebenswirklichkeit und innere Freiheit.
Wer achtsam lebt, konsumiert weniger, bewusster und nachhaltiger
Natürlich gibt es für die Bedürfnisse achtsamer Menschen auch wieder viele neue Produkte wie Klangschalen, Meditationskissen, Ratgeberbücher, Urlaubsreisen und noch mehr Yogastile. Aber sollte sich die Achtsamkeitswelle ungehalten Bahn brechen und tatsächlich Wirtschaftsunternehmen dazu bringen, achtsamer zu handeln und Konsumenten, bewusster zu konsumieren, dann wäre dies ein fundamentaler Paradigmenwechsel in unserem Wirtschaftssystem – und möglicherweise der Anfang vom Ende des unbegrenzten Konsum- und Wirtschaftswachstums.
Die den wirklichen Bedürfnissen des einzelnen Menschen dienliche Achtsamkeit ersetzte dann in einer umfassenderen Art den bisherigen abstrakten Begriff der Nachhaltigkeit. Und in einer achtsameren Zukunft könnten achtsamere Mitarbeiter ethisches Handeln bei der Produktion, Herstellung und dem Verkauf von Konsumgütern einfordern und der achtsame Konsument nichts mehr kaufen (wollen), was dem nicht entspricht.
Achtsamkeit ist wahrhaft anti
Bei solchen Überlegungen stehen konventionelle Konzepte von Industrie und Wirtschaft ganz schön auf dem Prüfstand, denn irgendwie kann man die Achtsamkeit (als zentrales Bedürfnis vieler zukünftiger Konsumenten) ja nicht vernachlässigen. Schon jetzt sind zwar Yogaunterricht, Entspannungskurse, Achtsamkeitstage und Führungskräftecoachings Bestandteil vieler Unternehmen, um intern die Mitarbeiter stressresistent und entspannt zu halten.
Aber auch die Kunden müssen mit Achtsamkeit bedacht werden. Und an der Stelle muss ein Unternehmen sein gesamtes wirtschaftliches Handeln von der Beschaffung und Produktion bis hin zur Vermarktung überdenken.
Auf Dauer könnte sich die Aneignung der friedliebenden Achtsamkeit in Unternehmen und Wirtschaft als performativer Feind des eigenen Wachstums- und Effizienzstrebens erweisen. Einmal eingelassen in die Köpfe, die Seelen und das Handeln der Menschen macht sie klarsichtig und sensibel für das individuell Wesentliche, was aber nicht unbedingt mit den Zielen des Unternehmens übereinstimmen muss.
Denn das Konsumverhalten wird sich durch Achtsamkeit in Richtung Nachhaltigkeit verändern. Und das zwingt die Unternehmen mehr als jede freiwillige Verpflichtung zu nachhaltigem Wirtschaften zur Veränderung.
Dann wirkt Achtsamkeit wahrlich nachhaltig anti!
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