Die westliche Medizin sei “anti”, sagt Prof. Dr. Vasant Lad. Sie sei gegen die Symptome einer Krankheit, während Ayurveda die Ursachen behandele. Bei evidero erklärt der Professor, wie die ayurvedische Heilung funktioniert: Ganzheitlich bezieht sie alle körperlichen und geistigen Ebenen des menschlichen Lebens mit ein. Wer den sympathischen Professor aus Indien einmal hautnah erleben möchte: Auf dem European World Ayurveda Congress im Oktober 2016 in Koblenz wird er vier Workshops halten.
Prof. Dr. Lad, wie würden Sie Ayurveda beschreiben?
Was ist “Ayurveda”? “Ayus” heißt Leben und “Veda” heißt Wissen. Das System dieses Wissens ist zu einer Wissenschaft geworden. Ayurveda ist die Wissenschaft des Lebens.
Was ist Leben? Es ist unser tägliches Leben, in dem Körper, Geist und das reine Bewusstsein zusammen gehören. Das Leben besteht aus Beziehungen: Der Beziehung zwischen Mann und Frau, zwischen Arbeit und Erleuchtung und der menschlichen Beziehung zu uns selbst. Wir brauchen absolute Klarheit in unseren Beziehungen. Diese Klarheit ist Mitgefühl und Mitgefühl ist Liebe. Liebe, Klarheit und Mitgefühl in Beziehungen bringt Ganzheit ins Leben. Und solch ein ganzes oder ganzheitliches Leben ist Ayurveda.
Warum, glauben Sie, erfährt Ayurveda gerade in Europa aktuell so ein großen Boom?
In der europäischen Welt gibt es ein eigenes medizinisches System: Das allopathische (= nicht-homöopathische) System der modernen Medizin. Die moderne Schulmedizin ist technisch hochentwickelt. Sie bietet Studien, sie bietet Untersuchungen, Forschungen. Und sie ist sehr schnell. “Das ist die Krankheit – und das ist die Behandlung.” Moderne Medizin ist sehr gut für akute Notfälle wie Herzanfall, Gehirnschlag mit Lähmungserscheinungen, Knochenbrüche, Unfälle. Aber sie bietet keinerlei präventiven Maßnahmen, sie bietet keine gute Ernährung angepasst an individuelle Bedürfnisse.
Ayurveda glaubt, dass jeder einzelne Mensch untrennbar, unteilbar, ganz, vollständig und einzigartig ist. Jeder Mensch ist ein einzigartiger Ausdruck des Universums. Daher muss das, was für den einen eine gesunde ausgewogene Ernährung ist, für den anderen nicht unbedingt das Gleiche bedeuten. Ayurveda spricht hier von Prakruti (Natur) der Konstitution, der individuellen Psychophysiologie. Ayurveda spricht darüber, die drei Doshas zu harmonisieren: Vata, Pitta, Kapha. Ayurveda hat also eine sehr einzigartige, individuelle Herangehensweise.
Nach der Lehre des Ayurveda besteht die Konstitution des Einzelnen (Prakruti / Prakriti) aus einer individuellen Zusammensetzung der drei Doshas Vata, Pitta, Kapha. Unsere Prakruti ist mit der Geburt festgelegt und enthält immer alle drei Doshas zu unterschiedlichen Anteilen. So gibt es vorwiegend Kapha-, vorwiegend Pitta-, vorwiegend Vata-Typen, Menschen in denen zwei Doshas vorherrschen oder auch Drei-Dosha-Typen.
Der Begriff Dosha kommt aus dem Sanskrit und heißt wörtlich übersetzt: Fehler. So liegen in jedem der drei Doshas körperlich-geistige Qualitäten, die uns bei Unausgewogenheit Probleme verursachen können. “Unausgewogen” bedeutet hier “In Relation zur angeborenen Konstitution”: Für jeden Menschen bedeutet “in Balance leben” also etwas anderes. Ayurveda strebt an, den Zustand der angeborenen Prakriti aufrecht zu erhalten und mögliche Dysbalancen, ausgelöst durch Ernährung, Stress, ungesunde Gewohnheiten, zu harmonisieren.
In der modernen Medizin nähert man sich dem Individuum über statistische Beobachtungen: Was bei 100 Menschen als Gemeinsamkeit auftritt, ist allgemein gültig. So erschaffen sie einen Rahmen für das, was allgemein gültig ist. Aber das funktioniert nicht. Weil das, was auf 100 Menschen zutrifft, mag beim Einzelnen eben nicht zutreffen. Man behandelt die Menschen nach standardmäßigen statistischen Schlussfolgerungen – das ist der Grund, warum es Nebenwirkungen gibt: Durch Medikamente ausgelöste Krankheiten nennt man iatrogenische Beschwerden, und Krankheiten, von denen man die Auslöser nicht kennt, heißen idiopathische Beschwerden.
Also in diesem komplexen Netzwerk von idiopathischen und iatrogenischen Beschwerden gibt es keine richtige Anleitung für den Einzelnen. Das ist der Punkt, an dem die europäische Welt den Rückschritt der modernen Medizin nicht erkennt – obwohl diese auch großartig und wundervoll ist. Aber sie produziert eben auch Nebenwirkungen, durch Medizin ausgelöste als auch unerklärliche Beschwerden. Die westliche Welt hat davon die Nase voll. Deshalb blickt sie auf alternative Heilverfahren und ganzheitliche Medizin. Das könnte der Grund sein, warum der Westen sich von Ayurveda so angezogen fühlt. Ich weiß es nicht genau, aber das sind so meine Beobachtungen.
Wo genau sehen Sie die Vorteile von Ayurveda in Vergleich mit anderen Formen der Medizin?
Jede Medizin hat ihre Berechtigung im Leben eines Menschen. Für einen akuten Herzanfall oder einen akuten Hirnschlag gibt es nichts Besseres als die moderne Medizin. Sie wird definitiv den Krankheitsverlauf anhalten und der Person helfen können. Aber wenn der Hirnschlag, wenn der Herzanfall einmal passiert sind, wie können wir weiteren Attacken vorbeugen? Wie können wir Komplikationen vorbeugen? Dafür ist Ayurveda die beste Medizin.
Ayurveda ist kein “quick fix”, keine schnelle Lösung. Aber bei chronischen Erkrankungen wie rheumatischer Arthrose, Diabetes, Osteoarthrose, Fettleibigkeit, chronischen Lämungserscheinungen und so vielen anderen Krankheiten, da hat Ayurveda zum Beispiel die Panchakarma Detox Programme der Snehan (Abhyanga, ayurvedische Ganzkörper-Ölmassage) und Svedan (Schwitzbad).
Ayurveda hilft, Krankheiten vorzubeugen, die Ernährung umzustellen und ihr Umfeld zu verändern. Nur so kannst du deine Psychophysiologie verändern und zukünftigen Beschwerden vorbeugen.
Haben Sie Tipps für Anfänger: Wie können wir Ayurveda am besten in unseren Alltag integrieren?
Gerade für Anfänger ist Ayurveda ein wundervoller Weg zurück zum Biorythmus des Lebens. Wenn man früh am Morgen aufwacht, noch bevor die Sonne aufgeht, alles ist noch ruhig und entspannt, Sattva, dann tritt Klarheit ins Leben. Wir stehen früh auf, putzen die Zähne, schaben die Zunge ab, trinken ein Glas Wasser und finden schließlich Stille, setzen uns ruhig hin, gen Norden, und üben die Soham Meditation.
Das bedeutet, wir betreten das Licht mit etwas Biorythmus. Man bekommt eine gute Verdauung. Dann kommt die Abhyanga Massage, Augen Massage, ein heißes Bad. Frische, saubere Kleidung. Auf diese Weise betreten wir das Licht mit einer neuen Qualität der Wahrnehmung, einer neuen Qualität der Bewusstheit und des Bewusstseins. So ein Leben wird glücklich.
Dann sagt Ayurveda, wann wir frühstücken, wann wir zu Mittag und wann zu Abend essen sollten. Auf diese Weise sollten unsere biologische Uhr und die chronologische Uhr übereinstimmen. Sonst, wenn wir erst um 10 Uhr aufstehen, dann wird der ganze Tag schwer werden: Die Verdauungsarbeit beginnt erst um 11 Uhr, die Verdauungsorgane, voll mit Fäkalien bis zum Dickdarm, produzieren Gase, Endotoxine wandern zum Nervensystem und produzieren Depressionen, Traurigkeit, Ängste, Gefühle der Unsicherheit… all das passiert, wenn wir zu spät aufstehen.
Also müssen wir unseren Lebensstil ändern, ihn an unseren Biorythmus anpassen, sogar schon um 9 oder 10 Uhr ins Bett gehen. Wenn wir bis 12 oder 1 Uhr nachts aufbleiben, bekommt unser Gehirn keine Erholung: Es wird Vata und Pitta produzieren und das zerstört den ganzen Biorythmus. Das ist der Grund, warum Ayurveda von jedem Einzelnen individuelle Änderungen in seinem Lebensstil verlangt.
Der richtige Lebensstil, das bedeutet für Vata Menschen zum Beispiel: Sie haben trockene Haut, Verstopfung, knackende Gelenke, die sich leicht verschieben. Sie sollten nicht joggen, hüpfen und sich auspowern, das würde ihren Gelenken schaden. Sie sollten sanftes Yoga, Tai Chi, Pranayama und Meditation üben. Diese sanften Aktivitäten werden ihnen helfen, ihre Kraft besser einzusetzen und ihre Muskeln und Gelenke zu schützen.
Ähnlich bei Pitta: Pitta Typen haben so viel Hitze in sich, ihnen tut zu heißes und direktes Sonnenlicht nicht gut. Sie sollten im Schatten arbeiten und ihr Lebensstil sollte insgesamt eher kühlend und berühigend sein.
Kapha Typen dagegen sind eher zu entspannt, ihnen tut Joggen gut, aber das mögen sie nicht. An diesen Beispielen sehen wir, dass wir unseren Lebensstil gemäß unseren Doshas ausrichten sollten.
Können Sie uns ein Beispiel nennen, wo Sie jemandem helfen konnten, dem die westliche Medizin nicht helfen konnte?
Es gab zum Beispiel einen Patienten mit eitriger Dickdarm-Entzündung: Er litt an Durchfall, einer bakteriellen Infektion, Schleim und Blut. Man hatte es mit Darmspülungen versucht, keine Besserung. Dann wollte man den entzündeten Teil des Darms operativ entfernen und einen künstlichen Darmausgang legen. Der Patient kam zu mir.
Ich untersuchte seinen Puls, um sein Prakruti herauszufinden: Sein Vata drückte Pitta in den Darm, was die eiternde Entzündung verursachte. Also behandelte ich ihn mit ayurvedisch-medizinischen Kräutern: Sein Vata mit Ashwagandha und Pitta mit Couri, den Eiter mit Kamadudha, den Durchfall mit Kutki und Chitrak. Das ist keine Herangehensweise an die Symptome sondern an die Wurzel: Pitta reizte die Darmwand, also behandelte ich Pitta.
Ich gab ihm außerdem Basti (Einläufe) und einige Yoga und Pranayama (Atem) Übungen, außerdem eine angepasste Diät. Die Ernährung war sehr wichtig. Innerhalb von sechs Monaten war die Entzündung vollständig geheilt. Es hat zwar etwas Zeit gekostet, aber es hat ihm einen operativen Eingriff erspart.
Ist Ayurveda mit moderner Medizin kompatibel?
Wissen Sie, man kann das nicht wirklich vergleichen. Moderne Medizin hat eine andere Herangehensweise. Sie ist eine Wissenschaft des “Anti”. Moderne Medizin ist Anti-Krankheit, gegen Krankheit. Wenn ein Fieber besteht, gibt es Medikamente gegen Fieber: Antipyretika. Bei Schmerzen gibt es Mittel gegen Schmerzen: Analgetika. Bei Depressionen: Anti-Depressiva. Bei Entzündungen: Antibiotika.
Das bedeutet, die ganze westliche Pharmazie ist “anti”. Dieses Anti-, Anti-, Anti- richtet sich gegen das, was gerade passiert und in dieser Oppositionshaltung werden die Symptome einer Krankheit unterdrückt. Doch das, was unterdrückt wird, muss in anderer Form rauskommen.
Im Ayurveda werden Krankheiten als Folge von aus der Balance geratenen Doshas angesehen. Das bedeutet, gereizte Doshas greifen Dhatu, Gewebe, an und dadurch verändert sich das Gewebe in Qualität, Quantität, Funktion und Struktur. Ayurveda versucht, dieses komplexe Netzwerk zu heilen, indem es zur ursprünglichen Wurzel des Problems geht. Das geht nicht sofort, es braucht Zeit, aber es wird die Krankheit auslöschen, nicht nur die Symptome. Das ist der grundsätzliche Unterschied zwischen moderner Medizin und Ayurveda.
Ist Ayurveda mit anderen medizinischen Systemen kompatibel?
Oh Ja. Ayurveda und Akupunktur passen sehr gut zusammen. Im Ayurveda gibt es Marma Therapie ähnlich der Akupressur. Ayurveda und Naturopathie passen zusammen: Beide nutzen natürliche Medizin. Ayurveda passt auch gut zur Chiropraktik, beide arbeiten mit manueller Therapie / Manipulation. Es gibt ganz wundervolle neue Herangehensweisen aus der Chiropraktik auch ganz ohne Einrenken und ohne äußeres Dazutun, indem sie einfach Blöcke benutzen und der Mensch renkt sich selber ein – eine erstaunliche Methode.
Also Ayurveda ist gleichzeitig mit allen alternativen Systemen der Medizin einsetzbar. Ayurveda ist außerdem nicht gegen die Schulmedizin, auch das kann sich ergänzen und zusammen passen. Die grundsätzlichen Prinzipien der westlichen Medizin, der Homöopathie und der Naturheilkunde liegen alle in den Wurzeln des Ayurveda. Man könnte sagen, Ayurveda ist die Mutter aller Heilsysteme.
Bei welchen Indikationen wendet man Ayurveda an?
Schuppenflechte, Rheuma, Arthrose. Alle Formen von chronischen Schmerzen, steifen Gelenken, Entzündungen. Ascitis, Wasser in der Bauchhöhle (Bauchwassersucht). Fettsucht. Diabetes. Die Indikationen für Ayurveda sind nicht unendlich. Doch gerade bei vielen chronischen Krankheiten kann Ayurveda sehr gute Resultate erzielen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft des Ayurveda?
Mein Wunsch, meine Vision, mein Traum: Integrative Medizin. Ich wünsche mir, das in den Krankenhäusern der Zukunft westlich-medizinische Ärzte und ayurvedisch-medizinische Ärzte Seite an Seite arbeiten: Bei akuten Entzündungen behandeln die westlichen Ärzte mit Antibiotika – sobald die Entzündung zurück gegangen ist, gehen die Ayurveda Ärzte ins Detail und heilen die ursprüngliche Krankheit. Ohne Konkurrenz, ohne Streben nach Prestige: Hand in Hand unter einem Dach für das Gute arbeiten, das ist mein Traum von Integration.
Wo wird das beginnen: In der westlichen oder in der östlichen Welt?
In Indien praktizieren wir das bereits! Jedes staatliche Krankenhaus hat eine ayurvedische Abteilung: Westliche Mediziner und Ayurveda Ärzte arbeiten miteinander. Es ist am Westen, den Schritt zu gehen.
Vielen Dank für das Gespräch!