Wenn unsere Augen unser Sinnesorgan für unsere Fähigkeit, die Welt um uns herum zu sehen, sind, dann ist das Werkzeug für den Blick nach Innen der “Innere Beobachter” oder “Innere Zeuge”. Er nimmt ohne Wertung unsere Gedanken, unsere Gefühle und unsere körperlichen Empfindungen wahr, in dem Moment, da sie auftauchen.
Oft verwechseln wir “denken” mit “wahrnehmen/beobachten”. Wenn wir denken, dann bedeutet das jedoch meist, dass wir interpretieren, analysieren und vor allem auch: Bewerten und urteilen. Meist wandern unsere Gedanken dabei in die Vergangenheit oder in die Zukunft.
Wahrnehmen bedeutet dagegen, dass wir im gegenwärtigen Augenblick präsent sind und beobachten, was ist, ohne eine Meinung im Sinne von “gut”, “schlecht”, “richtig” oder “falsch”, “supertoll” oder “voll blöd” zu bilden.
Der Innere Beobachter: Gefühle zulassen und wertfrei betrachten
Der Innere Beobachter ist das Zauber-Werkzeug, das uns ermöglicht, ohne Wertung wahrzunehmen. In uns mögen sich ganze Dramen und Gefühlsexplosionen abspielen: Den inneren Beobachter berührt das nicht.
Er ist wie eine Filmkamera, die am Rande einer Szene steht und ohne Urteil aufnimmt, was passiert. Und genau in dieser neutralen Draufschau liegt die große Kraft unseres inneren Auges. Der Blick nach innen ermöglicht uns, eine tiefere Dimension unseres Selbst zu spüren: Unser Bewusstsein.
Die Trennung zwischen Bewusstsein und Geist kann ein Schlüssel sein, um negative Gedanken und Gefühle loszulassen. Loslassen heißt übrigens nicht, dass wir diese Gedanken nicht haben oder die Gefühle nicht fühlen. Loslassen bedeutet “Nicht-Identifizieren” und “Nicht-Urteilen”: Wertfrei beobachten.
Wir haben die Wahl, ob wir uns mit der Rolle in einem Drama identifizieren oder ob wir, ähnlich der Kamera, präsent sind, ohne uns völlig ins Geschehen hineinziehen zu lassen. Wenn wir überschäumen vor Glück, nimmt der Innere Beobachter wahr, dass wir Freude empfinden – ohne das als positiv zu werten. Wenn wir traurig sind, nimmt der Innere Beobachter wahr, dass wir traurig sind, ohne das als negativ zu werten.
Beides, Freude und Trauer sind Anteile des Lebens. Das Gewahr-Sein des ewigen Bewusstseins als Kern unserer Existenz schafft mehr inneren Abstand zu den sich ständig verändernden Geschichten, die unseren Alltag bestimmen. Das bedeutet nicht, dass wir gleichgültig oder gefühllos werden, sondern im Gegenteil, dass wir unsere Gefühle zulassen und tiefer empfinden können, weil wir ihre Heftigkeit durch die wertfreie Beobachtung und die Distanz des Inneren Beobachters nicht mehr fürchten müssen.
Gedanken sind vergänglich – auch negative Gedanken
Gedanken kommen und gehen, Gefühle entstehen und vergehen und auch unser Körper ist einem ständigen Wandel unterworfen. Das Gewahrsein über die Unbeständigkeit von Gefühlen nimmt ihnen etwas von ihrer Bedeutung und ihrer Bedrohlichkeit: Wenn wir Liebeskummer haben, ist es tröstlich zu wissen, dass das Drama mit all seinen begleitenden Gedanken und Gefühlen sich größtenteils in unserem Kopf abspielt und dass es früher oder später durch andere Geschichten ersetzt werden wird.
Auch wenn es jetzt ganz furchtbar weh tut und uns vielleicht wütend macht oder verzweifeln lässt: “This, too, shall pass” – Auch dies wird vorübergehen, lautet ein vermutlich persisches Sprichwort über eine der wenigen Sicherheiten unseres Seins: Nichts bleibt wie es ist.
Beobachten statt Bewerten: Gefühlvoll statt impulsiv reagieren
In der Verbindung mit unserem Bewusstsein können wir einen Raum zwischen den emotionalen Auslösern und unseren Reaktionen darauf schaffen. Wir aktivieren unseren Inneren Beobachter und beobachten wie “es in uns reagiert”. Ein Kollege kritisiert uns beispielsweise. Anstatt sofort zu antworten und womöglich gereizt zu reagieren, beobachten wir, dass wir gereizt sind.
Wir beobachten, welche Urteile über den Kollegen und uns selbst in unseren Gedanke auftauchen. Wir beobachten, was wir als ersten Impuls gerne erwidern würden. Wir beobachten unsere Gefühle, eventuell Ärger und Frustration. Und wir beobachten unsere körperlichen Reaktionen: Eventuell steigt Hitze in uns auf, wir ballen die Fäuste, der Nacken spannt sich an.
Gelassen bleiben und nicht sofort reagieren
Wenn wir jedoch innehalten und Nicht-Reagieren üben, ist es möglich, unsere oft unbewusst ablaufenden körperlichen, emotionalen und geistigen Reaktionen in unser Bewusstsein dringen zu lassen. So können wir unsere Muster im Denken und Fühlen aufdecken und uns selbst den Freiraum geben, zu entscheiden, welchen Handlungsimpulsen wir tatsächlich folgen möchten und welche wir lieber an uns vorbeiziehen lassen.
Anstelle des Versuchs, durch eine Impulsreaktion unser Umfeld zu ändern, ermöglichen wir, uns selbst und unsere Beziehung zu unserem Umfeld zu ändern. Im Falle des kritisierenden Kollegen können wir uns beispielsweise entscheiden: Anstatt ärgerlich und abwertend zu reagieren, können wir ihn fragen, was ihn genau zu dieser Kritik veranlasst hat und welche Lösung ihm vorschwebt. So können wir gleichzeitig in empathischem Kontakt zu uns selbst und unserem Umfeld bleiben.
Achtsamkeitsübungen für die Verbindung mit dem Inneren Beobachter
Übungen zum wertfreien Beobachten mit dem Inneren Zeugen gibt es viele: Alle achtsamkeitsbasierten Praktiken helfen, den Inneren Beobachter zu aktivieren und die Verbindung mit ihm zu einer neuen Gewohnheit werden zu lassen, die uns mehr Gelassenheit, innere Freiheit und emotionale Balance schenkt. Hierfür eignen sich beispielsweise Tai Chi, Yoga, Qi Gong und Meditationstechniken, wie die Mind Based Stress Reduction (MBSR).