Yogalehrer Richard Hackenberg kennt man in der Yogawelt als Anatomie-Experten. Dr. Ralph Skuban ist promovierter Politikwissenschaftler, der sich seit mehr als 15 Jahren mit spiritueller Philosophie beschäftigt. Ein perfektes Autorenpaar für ein Thema wie Chakras: Bilden diese Energiekreise nach der Yogalehre doch die Schnittstelle zwischen unserem Körper und Geist. evidero fragt heute den Yogaphilosophen Dr. Ralph Skuban: Was genau sind “Chakras” und wie können wir sie spüren? Ist das nicht eher esoterischer Kram? Was hat die Chakra-Lehre mit unserem Leben zu tun? Und wie werden wir denn nun glücklich?
Lieber Herr Dr. Skuban, wie erklären Sie Menschen, die nichts mit Yoga zu tun haben, worum es in Ihrem neuen Buch “Das Chakra Yoga Praxisbuch” geht?
Wenn mich jemand dazu fragen würde, der keinen Zugang zum Yoga hat, würde ich sagen, dass es um Übungen und philosophische Ideen geht, die sich mit dem inneren Wachstum des Menschen auseinandersetzen, dabei aber gezielt den Körper mit einbeziehen, denn wir sind nun mal Wesen, die in Körpern leben, die Freud und Leid erfahren können.
Wir sind aber auch mehr als dieser Körper aus Fleisch und Blut, wir haben innere Schichten, auch und gerade einen „Energiekörper“, den man ansprechen, erforschen und erleben kann. Darum geht es in den Übungen in diesem Buch.
Was ist ein Chakra?
Chakra heißt „Rad“ und bezeichnet Zentren von Energie oder Prana, die in unserem Körper lokalisiert sind und dort wirken. Es gibt unzählige Chakras: Wo sich mehrere Nadis oder feinstoffliche Energieströme überkreuzen – sozusagen energetische Verkehrsknotenpunkte – da findet sich ein Chakra. In der Philosophie und Praxis des Yoga indes spielen aber nur sieben Energiezentren eine Rolle, die entlang der Wirbelsäule angeordnet sind. Und eigentlich sind es sogar nur sechs, weil das siebte – das so genannte Kronenchakra – kein Chakra im eigentlichen Sinne ist, sondern die energetische Entsprechung des spirituellen Angekommenseins – die Wohnstatt Brahmans.
Brahman heißt übrigens, wörtlich übersetzt, „das Größte“ oder „Höchste“ und wird manchmal als „Gott“ übersetzt. Im Grunde aber meint es etwas ganz und gar Ungreifbares, nämlich ungeborenes, unsterbliches, unbegrenztes und alles durchflutendes Bewusstsein, das sogar noch unsere Vorstellung von einem Schöpfergott transzendiert. Brahman wird vielmehr verstanden als die Quelle, aus der sogar der Schöpfer kommt. Wenn wir allerdings Gott dazu sagen wollen, ist das natürlich völlig in Ordnung. Wer vermag sich etwas wie Brahman auch vorzustellen?
Chakra ist ein Jahrtausende alter Begriff aus der altindischen Sprache Sanskrit. Gibt es inzwischen Erkenntnisse über körperliche Entsprechungen für diese Energiezentren?
Es gibt vielfältige Verbindungen, das liegt in der Natur der Sache. Die Chakras sind Teil unseres Energiekörpers. Dieser ist eine Brücke zwischen physischem Körper und Geist, das heißt, es lassen sich Verbindungen in jede Richtung herstellen. Wenn es um das Spüren und Fühlen geht: Man kann seine Wahrnehmung gezielt so verfeinern, dass man beginnt die Chakras wahrzunehmen: Sie sind ein menschliches Phänomen, keine indische Spezialität oder Eigenheit.
In vielen Kulturen hat man sie entdeckt. Sogar der Regensburger Mystiker Georg Gichtel hat vor mehreren hundert Jahren eine Skizze und ein Buch über diesen „inneren“ oder „zweiten Körper“, wie er es nannte, angefertigt.
Können Sie das bitte genauer erklären: Was ist da körperlich spürbar, wenn ich ein Chakra wahrnehme?
Letztlich kann ich das natürlich nur für mich selber sagen, denn ich weiß nicht, wie sich etwas für andere anfühlt. Wie zum Beispiel sollte ich jemals wissen, was ein anderer Mensch spürt, wenn er verliebt ist? In unserer Wahrnehmung sind wir sehr allein in unserem Körper-Geist-Komplex. Was ich spüre, das ist ein starkes Kreisen im unmittelbaren Umfeld der Chakras, eine manchmal sehr intensive Bewegung, die von den Zentren ausgeht und weit über meinen Körper hinausreicht. Oft spüre ich auch meinen ganzen Energiekörper, es ist fast, als würde ich mit einem zweiten Körper „in mir selbst schwimmen“.
Chakras können auch heiß sein, brennen, das ist oft so beim Augenbrauenzentrum, vor allem am Anfang der Wahrnehmung. Daran ist nichts gefährlich. Mit all dem will ich nur Ideen geben. Das Thema Energiekörper und die Chakras führt noch viel weiter, bis hin zum Beispiel zum Thema der bewusst gesuchten und herbeigeführten außerkörperlichen Erfahrung. Doch dem an dieser Stelle noch näher nachzugehen, würde den Rahmen hier sprengen.
Und was bedeutet Prana?
Prana ist ein weiter Begriff, so weit, dass er sogar als Synonym für Brahman, das höchste Seinsprinzip Verwendung findet. Prana ist in diesem Sinne sozusagen die Kraft Gottes. Als solche durchflutet sie auch uns als die Energie oder Vitalität, ohne die wir nicht einen Moment lang leben könnten. Prana ist mit anderen Worten „alles“. Ich bin Prana. Du bist Prana. Jedes Atom ist Prana. Und im Yoga geht es eben ganz zentral darum, mit Prana in Kontakt zu gehen, weil es als Brücke zwischen Körper und Geist verstanden wird.
Wenn Prana balanciert ist und zur Ruhe kommt, so sagen die Schriften, kommt auch der Geist zur Ruhe. Und der stille Geist ist die Definition des Zustandes von Yoga, wie Patanjali ihn im Yogasutra beschreibt.
Es gibt die Überlegung, ob das, was die alten Inder mit Chakras (Energiezentren), Nadis (Energiebahnen) und Prana (Lebensenergie) bezeichneten, mit dem übereinstimmt, was wir heute als unser körperliches Nerven- und Drüsensystem kennen. Es würde für viele Menschen den Zugang zu dem Thema sicher einfacher machen, wenn wir die Begriffe aus ihrem abstrakten Himmel holen und auf den Boden einer materiellen Realität stellen könnten. Wie sehen Sie das: Können wir die Kraft von Prana wissenschaftlich nachweisen? Oder ist es wie mit Gott: Eine Frage des Glaubens?
Natürlich kann man Lebensenergie im Rahmen des westlich-wissenschaftlichen Denkens nicht nachweisen. Man weiß schlicht nicht, was Leben ist, ebensowenig wie man weiß, was Bewusstsein ist. Doch dass es etwas geben muss, das uns belebt, ist ganz offensichtlich. Wer schon Menschen hat sterben sehen – ich selber habe das viele Male erlebt – der beobachtet das Ende des Lebens als ein Ringen um den Atem.
Schließlich tritt der physische Tod ein, wenn nämlich das Leben mit einem letzten Atemzug buchstäblich „ausgehaucht“ wird. Vor dem letzten Atemzug war noch etwas da, was nun gegangen ist. Was ist das? Woher kommt es? Wohin geht es? DAS ist die Lebensenergie. Sie ist nicht in anatomischen Kategorien zu fassen. Doch sie existiert, wer könnte daran zweifeln?
Was würden Sie Menschen antworten, die Chakras und Energiearbeit als Hokuspokus oder esoterische Spinnerei bezeichnen?
Ich würde sagen, dass es ihr gutes Recht ist. Doch gleichzeitig würde ich ihnen sagen, dass ich sie spüren kann, dass sie interkulturell immer wieder entdeckt und beschrieben wurden. Wirklich ist nicht allein, was wir anfassen können. Einem Fisch im tiefen Ozean, der keine Augen hat, können wir nicht erklären, was Licht ist. Die Chakras gilt es, selber zu erfahren, dann wissen wir, dass sie eine Realität unseres Seins sind.
Manchmal tun das Menschen auch dann, wenn sie nicht daran „glauben“. Yoga ist ein innerer Weg in Freiheit. Ich habe jedenfalls kein Problem damit, dass manche die Chakras für esoterischen Unfug halten. Die „Yogaszene“ trägt dafür sicher auch zum Teil ihre Mitverantwortung, gibt es doch immer wieder auch unseriöse Angebote, wenig fundiert, die Heils- und Glücksversprechungen machen, ohne sie einlösen zu können. Und auch intellektuell geht es im Yoga ab und an etwas zu einfach zu. Die Yogaphilosophie und -Praxis ist ein anspruchsvolles Programm, das erforscht werden will.
Was ist Ihre Erfahrung: Suchen die Yogaschüler im Westen spirituelle Erfüllung? Oder geht es mehr darum, körperlich fit und sexy zu bleiben oder zu werden?
Das kann ganz unterschiedlich sein. Natürlich ist Yoga im Westen primär vom körperlichen Üben geprägt und die Übergänge zwischen Yoga, Gymnastik, Sport und anderen körperorientierten Praktiken sind sicher fließend. Doch viele, vielleicht sogar immer mehr, suchen auch nach größerer Tiefe, möchten sich selbst besser verstehen und verfolgen Yoga auch als inneren Weg. Die Zugänge sind vielfältig und alles hat seine eigene Berechtigung.
Selbst wenn Yoga nur praktiziert wird, um fit oder „sexy“ zu bleiben, kann das sehr hilfreich sein: Gegen Gesundheit und gutes Aussehen ist sicher nichts einzuwenden. Wer wünscht sich das nicht? Und das Üben konfrontiert uns auch „gnadenlos“ mit unseren eigenen Veränderungsprozessen, auch und gerade mit dem Älterwerden, mit unseren „Defiziten“ und Schwächen, kurzum: Yoga bringt uns viele Erkenntnisse über uns selbst, es ist ein Selbsterforschungsprozess.
Mir scheint, dass viele Menschen unterschwellig eine Leere spüren, ein Gefühl von nicht-erfüllt-sein – selbst wenn es ihnen “eigentlich”, also den äußeren Umständen nach, gut geht. Was sagt die Yogalehre zu diesem Phänomen?
Yoga sagt, dass wir nicht wirklich wissen, wer wir sind, dass wir nicht verbunden sind mit unserem inneren Licht. Und so können wir im Außen unserem Leben hinzuaddieren, soviel wir wollen, dennoch bleibt da dieses mindestens doch vage Gefühl des Unerfülltseins. Etwas fehlt. Dieses Etwas … Darum geht es im Yoga … Was ist es? Yoga sagt: Es ist im Raum Deines Herzens … Dort suche … und finde.
Warum fällt es den meisten von uns so schwer, glücklich zu sein? Was fehlt?
Das Streben nach Glück ist sicher schon seit Urzeiten eine wesentliche Triebfeder des Menschen. Wir wissen nicht, ob die Menschen in alter Zeit glücklicher oder zufriedener waren, als sie es heute sind, doch wahr ist bestimmt, dass Glück nicht allein von unseren äußeren Umständen abhängig ist, sondern wesentlich mit unserem Inneren zu tun hat.
Und so erleben wir heute das Paradox, dass in den modernen Zivilgesellschaften Wohlstand und relative Sicherheit für die meisten verwirklicht sind, nicht aber Glück. Zum Glücklichsein gehört offensichtlich mehr – oder etwas noch ganz anderes – als nur Geld und Sicherheit.
Was bedeutet das eigentlich: Glück? Missverstehen wir den Begriff vielleicht und suchen deshalb meistens vergeblich danach?
Die Yogaphilosophie hat für das, was wir „Glück“ nennen, das Wort Sukha, das bedeutet: „positiver Raum“. Das Angenehme geht schon rein logisch immer Hand in Hand mit seinem Gegenteil, also mit Duhkha, dem „negativen Raum“, also den frustrierenden oder schmerzhaften Erfahrungen, die das Leben bereit hält für uns. Wir können nicht nur Schönes und Angenehmes erleben, immer steht diesem die andere Seite gegenüber, und sei es, dass sie allein darin besteht, dass alles Schöne einmal sein Ende finden wird. Wir verlieren eines Tages alles, auch das, was wir lieben: Dinge, Menschen und schließlich sogar unseren Körper.
Jeder Tag, den wir leben, bringt uns unserem letzten Atemzug näher. Die Sterbeforscherin Elisabeth Kübler-Ross sagte einmal, dass der einzige Zweck unseres Lebens darin bestünde, geistig zu wachsen – nicht also primär Freude zu erleben und „glücklich“ zu sein, was immer das für jeden Einzelnen von uns auch bedeuten mag. Wahres Glück, so die innere Botschaft des Yoga, ist im permanent sich verändernden Äußeren des Lebens nicht zu finden, sondern in der Verbindung mit unserer spirituellen Essenz.
Liegt in dieser Verbindung mit unserem tiefsten Inneren unsere emotionale Heilung?
Ja, heil sein heißt ganz sein. Aus der Sicht des Yoga ist ein Mensch dann ganz oder heil, wenn er verbunden ist mit seiner Tiefe, wenn er in großer Bewusstheit dessen lebt, dass er ein spirituelles Wesen in einem sterblichen Körper ist.
Ist es eventuell das, was wir meinen, wenn wir von “Glück” sprechen: Ganz-sein im Sinne von vollständig und verbunden?
Ja, genau das meint es. Die Idee der Verbundenheit trifft es sehr gut.
Wie funktioniert diese Heilung und dieses “Ganz werden” – hat Yoga dafür ein Rezept?
Ja, so ein Rezept gibt es tatsächlich! Man kann es auf drei einfache Formeln herunterbrechen:
- Tu was
- Lerne dich kennen
- Hab Vertrauen
Ich nenne das gerne meine „Kriya-Yoga-Formel”, für die im Yogasutra die Begriffe Tapas, Svadhyaya und Ishvarah-pranidhana stehen. Die wesentliche praktische Übung des klassischen Yoga ist die Meditation. Die Körper- und Atemübungen dienen als Vorbereitung dafür. Doch es gibt noch eine vorgeschaltete Idee, ohne die macht auch die Kriya-Yoga-Formel keinen Sinn. Dafür stehen vor allem die Yamas im Yoga, der ethische Kodex also.
Am Anfang und als Fundament eines jeden inneren Weges steht die Bemühung, ein guter Mensch zu sein, anderen Wesen also keinen Schaden zuzufügen. Ohne eine ethische Basis wird unser Zusammenleben eine Hölle auf Erden.
Kann das Yoga Üben nach der Chakralehre helfen, uns heil und ganz zu spüren: Also mehr Glück zu empfinden?
Sie kann uns jedenfalls helfen, unserer Ganzheit ein zumindest kleines Stück näher zu kommen, meine ich. Das kann Freude machen. „Glück“ ist ein großes Wort und ich habe Respekt davor. Ich würde es lieber so sagen: Unseren Energiekörper zu entdecken ist ein spannendes Abenteuer. Das kann Spaß machen, auch mal anstrengend sein, es kann uns auch mit manch schmerzhafter Seite des Lebens konfrontieren – mit unserem Schatten – aber es ist in jedem Fall wert, erkundet zu werden.
Ihr Buch heißt Praxisbuch: Welchen praktischen Nutzen findet der Leser? Und wie wendet er es an?
Im Buch findet sich eine Vielzahl von praktischen Übungen: Asanas (Körperübungen), Pranayama (Atemübungen) und Meditationen. Sie wurden so zusammengestellt, dass sie jeweils im unmittelbaren Zusammenhang mit den behandelten Chakras stehen. Eingerahmt ist alles das von theoretischen und philosophischen Kapiteln, um Hintergründe verständlich zu machen und den Leser zu einer umfassenden Erfahrung hinzuführen.
Richtet sich das Buch an Yoga Neulinge oder ist es eher Fachliteratur für erfahrene Yogis?
Ich denke, das Buch können auch Anfänger gut verstehen und die Übungen anwenden. Es geht darin nicht so sehr um „schwierige“ Übungen, doch aber um seriöse Praktiken. Yoga muss nicht schwierig sein, wichtig ist vielmehr, dass man die Übungen mit Bewusstheit anwendet und sich darin selbst erlebt und erforscht.
Was ist Ihr wichtigster Tipp an Ihre Leser?
Versuche, ein guter Mensch zu sein, was immer das auch für Dich bedeutet! Verliere nicht die Freude am Leben, auch dann nicht, wenn es einmal schwierig wird! Suche nach dem Licht im Raum Deines Herzens!
Vielen Dank für das Gespräch!