Stress ist ein Alltagsphänomen und immer mehr Menschen suchen Möglichkeiten und Wege, Stress zu vermeiden und besser damit umzugehen. Doch es ist nicht immer leicht, den richtigen Weg zu finden und darauf zu vertrauen, dass dieser Weg der angemessene und richtige für die individuelle Situation ist. Denn Stress ist kein leicht zu nehmendes Thema, er macht auf Dauer krank. Schwächung des Immunsystems, Migräne, Hauterkrankungen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, Bluthochdruck, akute und chronische Schmerzen – all diese Erkrankungen können Folge von Stress sein. Und ist eine Krankheit erst einmal entstanden, verursacht sie noch mehr Stress.
Den Menschen zu helfen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen, hat sich Sabine Keßel, zertifizierte MBSR Trainerin und systemische Beraterin für Persönlichkeitsentwicklung, auf die Fahne geschrieben. MBSR heißt übersetzt “Mindfulness-Based Stress Reduction” und ist ein wissenschaftlich fundiertes Achtsamkeitsübungssystem, welches der Prophylaxe und Behandlung von stressbedingten Erkrankungen dient. Um es dementsprechend anwenden zu können, hat Sabine Keßel ihre Ausbildung als Achtsamkeitstrainerin nach der Lehre von Jon Kabat-Zinn, dem Urheber und Erfinder dieser durch zahlreiche Studien nachgewiesenen Methode gemacht.
Mittlerweile wird MBSR in verschiedenen Kontexten erfolgreich eingesetzt: In der Psychotherapie, in der Medizin, im privaten Umfeld, für eine gesunde Lebensführung sowie in Unternehmen zur Bewältigung von beruflichem Stress. Für evidero hat Sabine Keßel erstmals online ein 8-wöchiges MBSR Programm zum Thema “Achtsamkeit im Alltag üben” entwickelt. Darin stellen wir euch jede Woche, über insgesamt 8 Wochen, eine Übungseinheit für je 7 Tage zur Verfügung. Begleitend haben wir für euch ein adäquates Yogaprogramm zusammengestellt, welches zu MBSR passt und für jeden umsetzbar ist. Damit möchten wir euch die Möglichkeit geben, das Konzept für euch im Alltag zu testen. Was aber genau dahinter steckt und wie es anzuwenden ist, das sagt uns die MBSR Expertin nun persönlich im Interview.
Das Interview führt: Annette Coumont
Liebe Frau Keßel, können Sie uns das Konzept von MBSR und Achtsamkeit einmal kurz erläutern?
Mindfulness-Based Stress Reduction ist ein Konzept zur Stressbewältigung durch die Schulung der Aufmerksamkeit, das Jon Kabat Zinn in den 1970er Jahren in den USA entwickelt hat. Ursprünglich für chronisch kranke Patienten angewendet, wird es mittlerweile in sehr vielen Bereichen, wo es um die Bewältigung von Stress geht, erfolgreich eingesetzt. Achtsamkeit ist eine Methode, um unseren Geist zu schulen. Wir üben dabei, bewusst unsere Gedanken, Gefühle und unseren Körper wahrzunehmen und die Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt zu richten. So entwickeln wir ein tiefes Verständnis von uns selbst und unserem Umgang mit der Welt. Das macht es leichter, den Alltag mit all seinen Herausforderungen zu bewältigen. Es ist somit eine besondere Art Lebensführung. Es geht darum, die Dinge so zu sehen, wie sie sind – klar und gleichzeitig voller Mitgefühl. Das erfordert manchmal Mut, ist aber eine grundlegende Voraussetzung für persönliche Entwicklung.
Für welche Menschen eignet sich MBSR besonders?
MBSR eignet sich für jeden – für jeden, der sich auf diese Reise einlassen mag. Vor allem Menschen, die sich vom Stress geplagt fühlen und das Bedürfnis haben, etwas daran zu ändern, kommen in die Kurse. Dabei hat der Stress oft mehrere Hintergründe: Berufliche Anforderungen, familiäre Themen, gesundheitliche Probleme und vor allem das Gefühl, nicht mehr selbstbestimmt sein Leben zu gestalten, sondern vom Alltag getrieben zu werden. MBSR bietet hier die Möglichkeit, einfach innezuhalten – ohne in diesem Augenblick irgendetwas erreichen zu müssen. Das ist für viele ein Luxus.
Was unterscheidet MBSR von anderen Stress reduzierenden Methoden?
Ich denke, der wichtigste Unterschied ist die Absichtslosigkeit. Es geht nicht darum, einen besonderen Zustand zu erreichen, sondern lediglich darum, bewusst wahrzunehmen, was gerade ist. Ich sage den Teilnehmern oft: MBSR ist keine Entspannungsmethode, sondern eine Hinguck-Methode. Das irritiert vielleicht zuerst. Aber das Gute ist, wenn ich lerne, alles was passiert, in diesem Moment mitfühlend annehmen zu können, ohne automatisiert darauf reagieren zu müssen, dann lerne ich, mit den Herausforderungen bewusst umzugehen – und zwar in jeder Lebenslage.
Gibt es eindeutige Belege für die Wirkung von MBSR?
Oh ja, mittlerweile gibt es sehr viele Studien zur Wirkung von MBSR. Die bildgebenden Verfahren der Neurowissenschaften zeigen die Wirkungen im Gehirn. So zeigt sich schon nach einigen Wochen der Übung eine signifikante Verdichtung der grauen Substanz im Hippocampus – was der Schädigung durch Dauerstress entgegenwirkt. Die subjektive Stressbelastung nimmt ab, es wird leichter, Emotionen wie zum Beispiel Angst zu steuern, außerdem steigt die Fähigkeit zu Mitgefühl, es wird leichter, mehr positive Gefühle zu empfinden. So wird die Methode zum Beispiel zur Rückfallprophylaxe bei Depressionen und Angststörungen eingesetzt. Und es zeigen sich positive Wirkungen auf stressbedingte Störungen wie Kopfschmerzen, Magenprobleme, Schlafstörungen oder Schwächung des Immunsystems.
Was können wir von einem MBSR Online-Kurs erwarten? – Wie ist der Kurs aufgebaut?
Der Online-Kurs orientiert sich am Original 8-Wochenkurs, ist aber weniger umfangreich und intensiv. Hier stehen kleine Übungen, die sehr gut in den Alltag integriert werden können, im Mittelpunkt. Jede Woche werde ich 1-2 Methoden und Anregungen vorstellen, die man für die nächsten 7 Tage üben kann. Wichtig ist, im Alltag Raum zu schaffen, um nach und nach die Achtsamkeit zu entfalten. Kontinuität zählt!
Ist es sinnvoll, den Kurs mit Yogaübungen zu unterstützen?
Yogaübungen sind ja ein sehr wichtiger Bestandteil des MBSR-Programms – insofern ist es sehr hilfreich, die Yogaübungen begleitend zu machen. In der Bewegung halten Sie die Aufmerksamkeit beim Körper und verbinden somit Körper und Geist. Darin liegt eine große und heilsame Kraft.
Wann und wie sollten die Teilnehmer am besten mit dem Programm starten?
Man kann jederzeit starten. Fangen Sie einfach an! Wichtig ist es, dran zu bleiben, egal ob es Ihnen gefällt oder nicht. Mit Sicherheit kommen Momente des Zweifels oder des Verdrusses, und manchmal ist auch anstrengend, mühsam oder unangenehm – das gehört dazu. Zu sehen, wie man dann damit umgeht, das ist die Übung.
Gibt es Einschränkungen zur Teilnahme?
Ja. Menschen, die sich in psychotherapeutischer Behandlung befinden, sollten die Teilnahme mit ihrem Therapeuten abstimmen. Beispielsweise ist es in einer akuten Phase der Depression oder Angststörung nicht angezeigt, intensiv zu meditieren.
Wie kann ich MBSR am besten in meinen Alltag integrieren?
Der wichtigste Punkt ist, sich überhaupt zu entschließen, damit zu beginnen. Starten Sie mithilfe des Online-Kurses mit kleinen Einheiten, die keinen großen Zeitbedarf brauchen. Es ist dabei hilfreich, sich für die formalen Übungen einen schönen Platz zu suchen, an dem Sie ungestört sein können. Es geht dann darum, diese Übungen zu ritualisieren – dazu braucht es ein bisschen Geduld und am Anfang auch Disziplin. Viele Übungen kann man mit normalen Alltagstätigkeiten verknüpfen, wie zum Beispiel achtsames Zähneputzen, achtsam essen oder Treppe steigen.
Wo können und sollten interessierte Teilnehmer sich nach weiterführenden Kursen und Trainern umsehen?
Auf der Website des MBSR Verbandes finden Sie eine große Auswahl an Trainern und Kursen. Mittlerweile gibt es in allen größeren Städten und teilweise auch in ländlicheren Gebieten qualifizierte Anbieter. Hier sind nur Anbieter mit einer anerkannten Ausbildung verzeichnet – das ist wichtig, denn der Begriff MBSR ist nicht geschützt und kann im Prinzip von jedem verwendet werden.
Vielen Dank für das Gespräch
Das MBSR Programm auf einen Blick