Im ersten Teil unserer Yoga-Spurensuche hat sich Thimo Wittich, selbst Yogi, mit den Wurzeln des Yoga beschäftigt. Nun will er wissen: Wie ist aus dem Kerngedanken des “Zur-Ruhe-Kommens” das moderne Fitness-Studio-Yoga entstanden?
Die zweite Wurzel des Yoga: Haṭha Yoga Pradipika
Im ersten Teil hatte ich beschrieben, wie neben dem ursprünglichen Yoga noch Hatha Yoga entstanden ist. Hatha Yoga fokussiert sich auf die Lebensenergie im Körper, die von den Indern prāṇa genannt wird und von den Chinesen Chi. Uns im Westen ist der Begriff des “Chi” dabei wahrscheinlich geläufiger. Diese Lebensenergie also wird durch körperliche Übung kontrolliert, kanalisiert und soll so für die Erlangung der (Selbst-) Erkenntnis genutzt werden.
Damit entstanden nun erst einmal zwei Richtungen:
- Zum einen der geistig-meditative Weg des Raja Yogas, den Patañjali beschreibt
- Zum anderen der körperlich-energetische Weg des Hatha Yogas
Die Inder wären allerdings nicht die Inder, hätten sie es nicht verstanden, dass das Körperliche und das Geistige nicht getrennt voneinander betrachtet werden können. Stattdessen sollte sich beides verbinden. Die “Haṭha Yoga Pradipika”, der älteste Text des Hatha Yoga aus dem 15. Jahrhundert nach Christus, vereint somit auch die beiden Wege wieder, indem er darauf besteht, dass Raja und Hatha sich aufeinander beziehen und Seite an Seite praktiziert werden sollen.
Die dritte Wurzel: Tirumalai Krishnamacharya
Nachdem über Jahrhunderte hinweg sowohl der geistige als auch der körperliche Weg entwickelt wurde und so ein festes Fundament entstand, trat Anfang des letzten Jahrhunderts ein Mann auf den Plan, der maßgeblich für die Begründung des modernen Yoga verantwortlich ist.
Tirumalai Krishnamacharya wurde beeindruckende 101 Jahre alt und als er 1989 schließlich verstarb, hatte er die Welt des Yoga revolutioniert.
In einer Zeit, in der Yoga sowohl im hinduistischen Indien als auch bei der englischen Kolonialmacht als eher sonderbarer Hokuspokus abgetan wurde, gelang ihm eine einzigartige Wiederbelebung des Hatha Yoga. Dies ist sowohl seiner charismatischen Persönlichkeit zu verdanken als auch seinen intellektuellen und körperlichen Fähigkeiten. Er war nicht nur Yoga-Lehrer, sondern auch Ayurveda-Heiler, Sanskrit-Gelehrter (Sanskrit ist die Bezeichnung für die alt-indischen Sprachen) und Philosoph. Spektakulär waren die Demonstrationen seiner Kontrolle über den eigenen Körper, in denen er bewusst seinen Herzschlag stoppen konnte.
Unter der Herrschaft des Maharadschas von Mysore, Krishna Raja Wadiyar IV, konnte er zwischen 1924 und 1955 einen Yogastil entwickeln und lehren, der in einzigartiger Weise Atmung und Bewegung miteinander verband und von ihm “Vinyasa-Krama” genannt wurde. Aus dem althergebrachten Yoga entwickelte er damit eine schwierige, dynamische Körper- und Geistesübung, die auf der Erkenntnis beruht, dass körperliche Gesundheit und geistiges Wachstum Hand in Hand gehen.
Die letzten Änderungen: Shri K Pattabhi Jois
Nun brauchte es nicht mehr viel, um das moderne Yoga entstehen zu lassen. Die letzte wichtige Person, die ich vorstellen möchte, ist Shri K Pattabhi Jois. Er nutzte das “Vinyasa-Krama”-Prinzip, um daraus seinen eigenen Stil, das “Aṣṭāṅgayoga-System” zu entwickeln. Er begann mit der Lehre um 1937. Mittlerweile führt sein Enkel die Arbeit fort.
Zusätzlich zu den beschrieben Fähigkeiten Krishnamacharyas wusste er, das Traditionelle mit dem Modernen zu verbinden. Er stellte sein Yoga auf das Fundament der alten Texte und Weisheitslehren, verstand es aber auch, neue Strömungen aufzunehmen und formte eine innovative und kreative Mischung aus Altem und Neuem. Dabei unterrichtete er jeden, der ihm ein wirkliches und ernsthaftes Interesse beweisen konnte, egal ob Inder oder Westler, Frau oder Mann. So enthob er Yoga aus einem Kreis Eingeweihter in das öffentliche Bewusstsein von mittlerweile Millionen Menschen. Yoga for everyone!
Sicherlich führen die meisten Yogaformen, die aus Krishnamacharyas ursprünglichen Prinzipien abgeleitet wurden, nicht sofort und direkt zur Erleuchtung. Aber wenn wir den Schritt auf die Matte wagen und auch ein bisschen auf ihr verweilen, werden wir erkennen, dass uns ein friedlicher Geist, der auf das Herz gerichtet ist, auf eine spannende und heilende Reise zu uns selbst schicken kann. Dann ist es vielleicht auch egal, ob es sich Hatha – oder Vinyasa Flow, Ashtanga oder Iyengar Yoga nennt.