Tagsüber der Fulltime-Job. Nach Feierabend noch Anrufe auf dem Firmenhandy. Haushalt, Einkaufen, Freunde / Verwandte – der ganz normale Alltag kann Stress auslösen. Damit zwischen all den Terminen und To-dos noch Energie fürs „richtige Leben“ bleibt, bedarf es häufig einer Umstellung der Gewohnheiten – privat wie im Beruf! Der evidero-Report über Stress im Job erklärt, wie der Stress entsteht, was Firmen und jeder einzelne machen können – und welche Rolle das Leben außerhalb der Firma spielt. Teil 1 schildert, warum Arbeiten stressiger geworden ist.
Unsere Arbeitswelt ist auf Wachstum und Effizienz getrimmt – darauf, dass kein Geld verschwendet, dass wirtschaftlich produziert wird. Überstunden, Termindruck und das Bearbeiten mehrerer Aufgaben gleichzeitig gehören für viele Menschen zum Arbeitsalltag. Und der Druck nimmt dank einer wettbewerbsorientierten Gesellschaft, durch Globalisierung und Digitalisierung stetig zu.
Die Folge: Jeder Zweite in Deutschland klagt über mehr Stress; 53 Millionen Krankheitstage kommen im Jahr wegen psychischer Störungen zusammen; das führt zu jährlichen Behandlungskosten von 30 Milliarden Euro und immer mehr Frühverrentungen wegen seelischer Leiden.
Es gibt nicht mehr genug Feierabend
Die Burnout-Expertin Sylvia Wellensiek aus dem bayrischen Fischen am Ammersee meint dazu: „Wir Deutschen haben eine große Affinität, uns selbst auszubeuten. Diese Nachkriegsmentalität wurde bereits in der Kindheit verinnerlicht und sitzt sehr tief in den Menschen drin. Wir sind fleißig und akkurat. Das hat natürlich auch viele Mittelständler zum Marktführer gemacht. Jetzt haben wir aber die offenen Märkte, und es gibt einfach keinen natürlichen Feierabend mehr, die Menschen könnten rund um die Uhr arbeiten. Deshalb fällt es so schwer zu fühlen, wann es genug ist.“
Die „Entgrenzung von Arbeit und Freizeit“ nennt Wolfgang Panter das. Er ist Präsident des Verbands Deutscher Betriebs- und Werksärzte. Wo sich beides nicht mehr auseinanderhalten lässt, gibt es keinen Feierabend mehr. Durch Smartphones, mit denen man auch die beruflichen E-Mails jederzeit abrufen kann, arbeiten viele auch nach Feierabend weiter.
Eine deutliche Trennung von Arbeit und Freizeit fordert auch Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen. Hilfreich dafür sei es, sich selbst klare Regeln zu geben, meint Wolfgang Panter. Etwa dass das Einloggen ins Firmennetzwerk sonntags definitiv tabu ist oder abends nach 22 Uhr das Handy ausgeschaltet wird.
Was löst Stress aus?
Zu den Auslösern für Stress gehören neben einer permanenten Über-oder Unterforderung im Beruf auch Faktoren wie Lärm, Reizüberflutung und zu wenig Schlaf. Unser Körper reagiert darauf mit schnellerem Herzschlag, erhöhtem Blutdruck, beschleunigter Atmung und angespannten Muskeln. Was für den Urzeitmensch gut für Flucht oder Angriff war – etwa, wenn er einem Bären begegnete – bedeutet für uns heute bei immer wieder kehrenden Stressreaktionen, dass wir nervös werden, unser Immunsystem schwächer wird und die Muskelverspannungen zunehmen.
Das Wichtigste ist, dass nach Stress irgendwann wieder die Entspannung einsetzen muss. Nur so können sich Körper und Geist erholen. Kurzzeitiger Stress ist für Körper und Geist kein Problem. Bei vielen aber ist der Rhythmus zwischen Stress und Entspannung gestört. So wird unser Körper in Dauer-Alarmbereitschaft versetzt und beginnt schließlich darunter zu leiden.
Viele versuchen, diese körperlichen Reaktionen mit Medikamenten zu bekämpfen. Tabletten gegen Kopfschmerzen, überhöhten Blutdruck oder Herzrasen helfen aber nur kurzfristig. Denn sie bekämpfen die Symptome, wirken aber nicht dem Stress entgegen. Am besten hilft in diesen Momenten eine ehrliche Bestandsaufnahme: Was bereitet mir Stress? Wie wirkt sich der Stress aus?
Aufgaben selber managen und auch mal nein sagen für weniger Stress
Professor Heike Bruch vom Institut für Führung und Personalmanagement in Sankt Gallen meint: „Jeder Arbeitnehmer muss lernen, seine Aufgaben selbst zu managen, Verantwortung zu übernehmen und aktiv Einfluss auszuüben. Dazu gehört auch, dass ich unrealistische Anforderungen zurückweise. Denn es hilft weder mir noch meinem Chef, wenn die Arbeit liegen bleibt, weil es einfach zu viel ist.“
Und sie ergänzt: „Ich sollte mit mir selbst einfach achtsam umgehen – mir klar machen, was mich stresst, darüber mit meinem Vorgesetzten reden und für Abhilfe sorgen. Es ist mein Part, meine Energiequellen zu suchen, in der freien Zeit aufzutanken und eine positive Einstellung zum Leben und meinem Job zu finden.“
Der Schweizer Medizinsoziologe Professor Johannes Siegrist meint dazu: „Die Intensität der Arbeit hat sich in den vergangenen 20 Jahren in vielen Berufen gesteigert. Das Tempo, die Arbeitsmenge, die zu erledigen ist, und die Anforderungen an die Arbeit haben sich erhöht. Objektiv kann man feststellen, dass durch Personalabbau für bestimmte Gruppen die Arbeit mehr geworden, durch die Globalisierung die Konkurrenz größer geworden ist und damit der Druck zu Rationalisierungen. Dazu kommt noch die Vermischung der Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit. Durch Handys und E-Mails ist die Arbeit durchlässiger geworden und wird mit nach Hause genommen.“
Bekomme ich eine angemessene Wertschätzung für meine Arbeit?
Das Phänomen „Stress“ erklärt er aus der Sicht des Wissenschaftlers: „In der Arbeitsstress-Forschung sprechen wir von Stress, wenn Herausforderungen gemeistert werden müssen, aber nicht klar ist, ob man diese Aufgaben erfolgreich lösen kann. Damit geht ein Gefühl der Bedrohung einher. Ich weiß nicht, was morgen passiert. Kann ich meinen Arbeitsplatz verlieren? Bekomme ich eine angemessene Entlohnung und Wertschätzung für meine Arbeit?“
Auch, wozu dies führen kann, erläutert Siegrist: „Das Risiko von Herz-Kreislauf-Erkrankungen steigt um 40 bis 50 Prozent, das von psychischen Störungen um 70 bis 80 Prozent.“
Sein Tipp: „Je nach Betriebsgröße kann man sich anonym an bestimmte Beschwerde-Instanzen wenden, auch an innerbetriebliche Vertrauensleute. Wenn der Arbeitgeber einsieht, dass eine gesundheitsförderliche Arbeit nicht nur für die Mitarbeitenden etwas sehr Positives ist, sondern letztlich auch das Betriebsergebnis verbessert, wird er sich mehr Gedanken dazu machen und stärker engagieren.“
Manchmal hilft nur ein Jobwechsel gegen Stress
Manchmal ist ein Wiedereinstieg in das eigene Leben nach einer Kur oder Pause nicht an gleicher Stelle wieder möglich. Im Klartext heißt das für manchen: Sich verabschieden von dem Job, der einen wirklich überfordert und nach einem neuen Arbeitsplatz Ausschau halten; oder die Wohnung wechseln, weil a) der Weg zur Arbeit zu lang ist und Stress erzeugt oder b) vielleicht auch die Umgebung zu laut ist.
Auch einem Partner, der keine Energie fürs eigene Leben lässt, muss man sagen können, dass man Veränderung braucht. Ein neuer Umgang mit Problemen sollte dem ohnmächtigen „Ich schaff das nicht“ weichen.