Die traditionelle chinesische Medizin erlebt mit ihren alternativen Heilmethoden im Westen gerade einen wahren Boom. Aber wie sieht es damit eigentlich im Herkunftsland aus? evidero-Bloggerin Inga Gebauer teilt ihre Erfahrungen mit TCM-Heilmethoden in China.
Wie selbstverständlich die traditionelle chinesische Medizin in China zum Alltag gehört, bemerkte ich nicht daran, dass es an jeder Ecke Akupunktur-Praxen gibt. Sondern im Schwimmbad. Und zwar an dutzende Chinesen, deren Rücken aussah wie bei einem makaberen Marienkäfer — acht kreisrunde Blutergüsse vom medizinischen Schröpfen.
Vielleicht war es auch bei der Essenseinladung, als ich zum ersten Mal Bittergurke aufgetischt bekam (das chinesische Kinderschreck-Pendant zum Spinat, das seinem Namen alle Ehre macht) weil es „die Körperhitze kühlt“ und den Schweiß trocknet und deshalb ein beliebtes Sommergericht ist. Oder als wir in Dämmerung Heerscharen an Qi-Gong und Tai-chi-Übenden auf dem Gehsteig sahen. Oder als mich meine Chinesisch-Lehrerin mit Husten und Schnupfen statt zur Apotheke zur Massage schickte.
Tatsächlich umfasst die „echte“ TCM nämlich viel mehr als Akupunktur und exotische Arzneien: Essen mit medizinischem Zweck, Bewegungsübungen wie Qi Gong oder Taijiquan, Haut- und Muskelbehandlungen. Je länger man vor Ort ist, desto deutlicher wird: Bei der TCM in China geht es um mehr als Pillen schlucken und Nadeln setzen: Sie ist ein Konzept zum Gesund-bleiben, das tief im Leben der Menschen und sogar in der Sprache verwurzelt ist.
Die Chance für meinen ersten authentischen China-TCM-Kontakt waren ziemlich schlimme Magenschmerzen. Nach tagelangen Beschwerden schleppte mich meine chinesische Mitbewohnerin zu ihrer Tante, einer ausgebildeten TCM-Ärztin. Die Untersuchung dauerte eine geschlagene Stunde. Der Kontakt war dann auch ziemlich direkt.
Sie zog meine Zunge heraus, befühlte Haut und Haare. Legte ihren Finger zehn Minuten lang auf mein Handgelenk — Pulsdiagnose. Stellte Fragen über Fragen (nach meiner Stimmung, Geschmack im Mund, Kälte- und Wärmeempfinden und durchaus noch unangenehmere…).
Ich persönlich hatte spekuliert, dass ich mir durch den übermäßigen Verzehr des Sichuan-Traditionsgerichtes Feuertopf (eine schweißtreibende Suppen-Detonation aus Chilis, Sichuan-Pfeffer und Öl) eine Magenschleimhaut-Entzündung zugezogen hatte. Ihre Diagnose hörte sich allerdings völlig anders an. Sie tippte mir auf den Bauch und sagte mit völligem Selbstverständnis: „Ganz eindeutig, dein Milz-Qi ist zu schwer.“ Nee, is klar. Ich muss wohl sehr skeptisch die Augenbrauen hochgezogen haben, jedenfalls erklärte sie mir freundlicherweise die Grundlagen der TCM.
TCM ist ein ganzheitliches Gesundheitskonzept
Die chinesische Medizin betrachtet den Menschen als Einheit aus Körper, Geist, Seele und Umwelt. All diese Bestandteil des Organismus beeinflussen sich gegenseitig. Auch die einzelnen Organe hängen wie in einem Schöpfungskreislauf miteinander zusammen, ebenso wie wie die inneren Organe mit der Körperoberfläche.
Meine Milz-Qi-Problematik hatte die Ärztin zum Beispiel am typischen weißlichen Zungenbelag festgestellt, weil die Milz laut Theorie nach außen mit der Zunge verbunden ist. Außerdem sei der Magen sozusagen das Schwesterorgan der Milz, und wenn das Milz-Qi nicht ordnungsgemäß fließe, wirke sich das fast immer auf den Magen aus. (Wenn die Lunge erkrankt ist, können das TCM-Praktiker z.B. an trockener Haut und glanzlosen Haaren, oder an übermäßigem Schwitzen erkennen — weil Haut und Haare die „Außenstelle“ der Lunge sind).
Yin und Yang in der chinesischen Medizin– alles andere als Schwarz-Weiß-Malerei
Ob denn der Feuertopf die Ursache für die Milz-Qi-Schieflage sein könnte, war meine nächste Frage. Die Ärztin schüttelte den Kopf, meine Beschwerden seien eher Yin-Symptome. Und erklärte: Jeder Teil des Organismus und der Umwelt besteht aus zwei Aspekten, Yin und Yang. Keiner der beiden ist positiv oder negativ besetzt, es handelt sich eher um Gegensätze wie warm und kalt, Körperinneres und -äußeres, Organ-Substanz und Organ-Aktivität.
Yin und Yang ergänzen sich gegenseitig, sie können nicht ohne ihr Gegenteil existieren und stehen in konstanter Wechselwirkung. Wenn Yin und Yang im Gleichgewicht sind, fließt die Lebensenergie Qi harmonisch, der Körper ist gesund und die Seele ausgeglichen. Krank wird man nach dieser Theorie, wenn Yin oder Yang zu stark oder zu schwach ausgeprägt sind. (Bei zu viel Organ-Substanz, z.B. einer Fettleber kann sie nicht funktionieren, bei zu hohem Blutdruck dagegen kann die Herz-Substanz nicht aufrecht erhalten werden).
Je nachdem, welcher Teil auf die schiefe Bahn gerät, gibt es Yin- und Yang-Symptome. MeineYin-Übergewicht hatte die Ärztin zum Beispiel am schleppenden Puls, der Müdigkeit und kühler Haut am Oberbauch erkannt. Klingt kompliziert? Ist es auch. Nicht umsonst dauert die traditionelle Medizinerausbildung in China fast 13 Jahre.
Es gibt laut TCM kein ungesunden Lebensmittel, nur unpassende
Wie es zu einer Yin- oder Yang-Schieflage kommen kann? Zum Beispiel durch Klimaveränderungen und unpassendes Essen. Teile der Umwelt, also Wetterphänomene und Nahrung sind in der TCM-Theorie nach Yin oder Yang kategorisiert. Kaltes und feuchtes Wetter ist Yin, warmes und trockenes Wetter Yang. Auch Lebensmittel sind je nach Geschmack und „Temperaturverhalten“ einer medizinischen Wirkung zugeordnet.
So gehören beispielsweise süße und kalte Lebensmittel wie Zuckererbsen und Kürbis, Rohkost und Kurzgebratenes in die Yin-Schublade. Scharfe und trockene Lebensmittel, Schmorgerichte oder Fleisch zählen zu den Yang-Nahrungsmitteln. Wenn ein Chinese eine fiebrige Erkältung hat, würde er seinen Zustand nicht mit „Erkältung“ bezeichnen, sondern mit „fa shao“ — frei übersetzt heißt das „die Hitze haben“.
Die würde er dann auch nicht mit Hühnersuppe kurieren, Huhn gilt nämlich als erhitzendes Yang-Lebensmittel. Gesundheit geht in China durch den Magen. Vielleicht auch deshalb heißt es auf Chinesisch „Medizin essen“ und nicht „Pillen schlucken“.
Was meinen Fall anging: Möglicherweise hätte ich in in dieser Herbst-Winter-Übergangszeit zu viele kalte (aha, die Bittergurke!!!) oder rohe Lebensmittel gegessen, mich zu viel in kühler und feuchter Umgebung aufgehalten und zu viel gegrübelt. Durch extreme Gefühlszustände (Die Chinesen sind quasi die Erfinder der Psychosomatik) kann man das Qi nämlich auch aus der Bahn werfen.
Mit chinesischer Medizin kann man Krankheiten vorbeugen
Nach diesen Erklärungen fühlte ich mich ein bisschen selbst schuld an meinen Beschwerden. Aber, Glück im Unglück: Die TCM gibt Patienten auch Konzepte an die Hand, wie man sich ganz selbständig gesund halten kann. Mein persönlicher Diätplan für weniger Yin und mehr Yang: Weniger rohes Obst und Salate, mehr lang gekochtes Essen, weniger süße Lebensmittel, mehr scharfe oder neutrale. Ingwer- statt Grünem Tee.
Ein Rezept für Medizin bekam ich dann übrigens doch. Das musste ich mir allerdings selbst kochen — ganze zwei Stunden musste die Zusammenstellung aus undefinierbarem getrockneten Zeugs in einem Steinguttopf köcheln. Der Geschmack des Gebräus stellte jede Bittergurke in den Schatten. Ob es die bittere Medizin oder die medizinische Ernährungsumstellung waren — mein Milz-Qi hatte sich offensichtlich schon nach einigen Tagen erholt, die Magenschmerzen verschwanden.
In China heißt es nicht zu Unrecht: Ein guter Arzt muss auch ein guter Koch sein.