Mehr Wert für Alle statt mehr Geld für Wenige, das ist ihr Credo: Professor Margrit Kennedy. Die „Grande Dame“ der Alternativgeld-aktivisten im Interview für evidero mit Rasmus Elsner.
Was läuft falsch mit unserem Geld?
Unser Geldsystem hat ein Hauptziel: aus Geld mehr Geld zu machen. Alle anderen Ziele – ob ökologisch, sozial oder kulturell – sind sehr schwer zu finanzieren, weil sie sich nicht rechnen.
Damit jemand geschäftlich in ein Projekt investiert, muss es mindestens das erwirtschaften, was er an eine Bank an Zinsen zahlt, plus einen kleinen Gewinn. Zwar kann man sich als Privatmensch entscheiden, zum Beispiel Solarkollektoren einzubauen, obwohl die nur zwei Prozent im Jahr bringen und vielleicht 4 Prozent Zinsen kosten. Aber die Wirtschaft kann sich das nicht leisten.
Zinsen machen uns auf Dauer ärmer
Woran liegt das?
Das Grundproblem unseres Geldsystems ist der Mechanismus von Zins und Zinseszins, durch den jedes Geldvermögen exponentiell wächst. Bei einem Prozent verdoppelt sich das Vermögen in 72 Jahren, bei drei Prozent in 24, bei sechs Prozent in 12 und bei 12 Prozent in sechs Jahren. Wenn also eine Bank 25 Prozent Eigenkapitalrendite erwirtschaften will, kann das auf Dauer nicht gehen.
Ein weiteres Beispiel, um exponentielles Wachstum zu verdeutlichen: Was würden Sie wählen, wenn man Ihnen Folgendes anbieten würde – 10.000 Euro pro Woche für ein Jahr oder einen Cent in der ersten Woche und jeweils das Doppelte in der folgenden Woche – also zwei Cent, vier Cent, acht Cent, 16 Cent usw. 52 Wochen lang? Die Variante mit den 10.000 Euro pro Woche ist schnell auszurechnen, das ergibt 520.000 Euro im Jahr.
Für die Rechnung mit dem exponentiellen Wachstum braucht man einen Computer. Am Ende kommen 45 Billionen heraus. Das entspricht etwa zwei Drittel des Weltbruttosozialprodukts.
Wie kann man mit solch unvorstellbaren Zahlen überhaupt umgehen?
Exponentielles Wachstum ist uns vollkommen fremd, wir können es nicht intuitiv begreifen. Dass wir das nicht in der Schule lernen, halte ich für unseren größten Bildungsmangel. Deswegen verstehen wir das Geldsystem nicht.
Mit zwei Prozent der Umsätze auf den internationalen Finanzmärkten könnte man alles erledigen, was die Welt an Waren und die realen Dienstleistungen auszutauschen hat. Die restlichen 98 Prozent dienen ausschließlich zum Spekulieren. Und nur im Spekulativen, im völlig virtuellen Bereich sind noch die Gewinne zu erzielen, die das Zinssystem verlangt.
Das exponentielle Wachstum übt also einen permanenten Wachstumsdruck auf die Realwirtschaft aus. Aber das ist nicht das einzige Problem an den Zinsen?
Über den Zins findet eine Umverteilung statt. Die meisten Menschen denken, dass wir nur Zinsen zahlen, wenn wir selbst Schulden machen. Aber wir zahlen auch, wenn sich ein Unternehmen verschuldet. Denn die Kreditzinsen, die es an die Bank zahlen muss, gehen als Kosten in die Preise ein.
Dadurch steigen die normalen Lebenshaltungskosten für den Durchschnittsbürger um etwa 35 bis 40 Prozent. Das heißt zum Beispiel: Etwa 38 Prozent der Kosten beim Trinkwasser entfallen auf Zinsen, weil die Wasserwerke Kredite aufnehmen, um Wasserleitungen und Pumpen usw. anzuschaffen und instand zu halten. Bei der Gebühr für die Müllabfuhr machen die Zinsen zwölf Prozent aus, im sozialen Wohnungsbau sind es sogar 77 Prozent.
Wer Geld leiht, zahlt Zinsen, wer Geld spart, bekommt Zinsen – das ist unser heutiges Geschäftsmodell …
So könnte man argumentieren. Aber tatsächlich profitieren von diesem System nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Bei weiteren zehn Prozent gleicht das Einkommen aus Zinsen etwa die Kostenanteile für Zinsen in den Preisen aus. Die restlichen achtzig Prozent zahlen drauf. Was die verlieren, bekommen letztlich also die zehn Prozent Reichen.
Auf diese Weise werden in Deutschland pro Tag 600 Millionen Euro umverteilt – von denjenigen, die für ihr Geld arbeiten müssen, zu denen, die ihr Geld für sich arbeiten lassen können. Wir schaffen mit unserem Geldsystem den Mittelstand ab. Aber das wird nie öffentlich diskutiert. Schauen Sie auf die Steigerungsraten der verschiedenen Bereiche: In dem Zeitraum, in dem die Vermögen um das 400-Fache gewachsen sind, stieg das Bruttosozialprodukt um das 100-Fache, die realen Einkommen und Löhne dagegen nur um das 10- bis 15-Fache.
Das virtuelle Geld hat keinen realen Gegenwert mehr
Wie passen denn dann die großen Vermögen und die Staatsschulden zusammen?
Eigentlich müssen wir nicht nur die Staatsverschuldung abbauen, sondern auch die Vermögen. Denn jedes Vermögen ist durch eine Schuld gedeckt und umgekehrt, und beide sind exponentiell gewachsen. Das wird häufig als Schereneffekt bezeichnet, weil beides auseinandergeht. Aber bei einer Schere hätten wir ja eine gerade Linie. In Wirklichkeit sind das zwei exponentielle Kurven, die zum Schluss senkrecht nach oben gehen. In der Phase befinden wir uns gerade.
Normalerweise kann ich mit meinem Geld etwas kaufen – ein Stück Land, ein Haus oder ein Auto. Funktioniert diese Verbindung in die Realwirtschaft auch bei den spekulativen Gewinnen?
Tatsächlich hätten wir ein riesiges Problem, wenn dieses Geld aus dem diesem virtuellen System morgen versuchen würde, Werte in der Realwirtschaft zu kaufen. Das wissen die Akteure und kaufen zum Beispiel vermehrt Land. In unserer Gegend hat sich der Bodenpreis in den vergangenen zwei Jahren vervierfacht. In Entwicklungsländern wechseln riesige Ländereien den Besitzer. Da reicht schon ein geringer Ertrag, dafür hat man einen realen Wert. Solange die Vermögen dagegen nur Zahlen im Computer sind, können sie in Sekunden verschwinden.
Aber gerade der Anspruch auf Einlösung macht das virtuelle Geld so gefährlich. Schon jetzt klaffen diese Ansprüche und die Werte in der realen Wirtschaftssphäre weit auseinander. Das System wird irgendwann zusammenbrechen müssen, weil es mathematische Gesetze gibt, die auch wir nicht außer Kraft setzen.
Jede Regierung in der Geschichte hat versucht, den Zusammenbruch so weit wie möglich hinauszuschieben. Aber das macht die Sache immer schlimmer – so wird es für uns tagtäglich teurer, diesen Crash aufzuhalten. Besser wäre es, irgendwann zu sagen: Wir machen jetzt einen Schnitt, und zwar früh genug, damit es noch nicht so hart ist, nicht so viele Leute trifft. Deshalb sollten wir jetzt schauen, wie wir Geld anders gestalten können und das dann erproben.
Alternative Geldsysteme könnten Sicherheit schaffen
Was macht es so schwer, über die Grenzen des existierenden Geldsystems hinaus zu denken?
Laien können das meist ganz gut. Schwierig ist es für Fachleute. Die haben in einer Banklehre bzw. im Wirtschaftsstudium gelernt, das Zinssystem als die Grundlage zu akzeptieren, auf der sämtliche Modelle aufbauen. Viele Ökonomen tun deshalb so, als sei das der natürliche Lauf der Dinge. Das ist es aber nicht. Das Geldsystem ist etwas völlig Künstliches – wir haben es geschaffen, wir können es verändern.
Müsste man dafür das bestehende System grundsätzlich infrage stellen?
Das ist Gott sei Dank nicht nötig. Man könnte komplementäre Währungen entwickeln, die das jetzige Geldsystem ergänzen und es gleichzeitig wesentlich stabiler machen würden.
Das wäre eine ganz neue Art von Währung. Anders als das Heutige wäre sie nicht dafür optimiert, aus Geld mehr Geld zu machen. Statt dessen sind solche komplementären Währungen darauf ausgerichtet, einen bestimmten Nutzen zu fördern, etwa den Austausch zwischen kleinen und mittleren Unternehmen, die Pflege älterer Menschen oder die Förderung der Wirtschaft in der Region.
Es könnte Komplementärwährungen für unterschiedliche Zwecke geben?
Wir verwenden für bestimmte Zwecke ja auch spezielle Kleidung oder Autos. Warum sollen wir also nicht verschiedene Gelder für die jeweiligen Zwecke haben – zum Beispiel eine Gesundheitswährung, eine Bildungswährung oder eine Zeitwährung? Ich bin überzeugt: Alle Dienstleistungen, die wir zum täglichen Leben brauchen, wären mit Komplementärwährungen besser abzudecken und sicherer, nachhaltiger zu organisieren.
Vom heutigen Geldsystem profitiert wie gesagt nur ein kleiner Teil der Bevölkerung. Komplementäre Währungen sind dagegen ein Vorteil für jeden, sie sind gemeinschaftsfördernd statt profitorientiert. Sie sind leicht zu verstehen. Weil sie transparent geschaffen werden, können sie auch demokratisch kontrolliert werden. Und sie sind meistens inflationsresistent, weil sie auf jeder Stufe der Weitergabe zu 100 Prozent durch Leistung oder durch Waren gedeckt sind.
Aber wie könnten die Systeme ineinandergreifen?
Es könnte Wechselstuben geben, sogenannte Clearing Houses, in denen man die verschiedenen Währungen tauschen kann. Wenn ich zum Beispiel einen Entwurf für ein Haus mache, werde ich mit einer Kulturwährung bezahlt. Mit der könnte ich aber auch Pflegestunden kaufen. Die Verrechnung liefe etwa über Chipkarten oder mobile Telefone. Die Probleme sind nicht technischer Art, sondern in den Köpfen. Man muss diese Barriere beseitigen, dass es nur ein Geld gibt und sonst nichts.
Welchen Effekt hätten Komplementärwährungen auf das bestehende Geldsystem?
Ich stelle mir vor, dass das existente Geldsystem auf die Bereiche schrumpft, wo es sinnvoll eine bestimmte Funktion erfüllt. Ich sehe bisher noch keine komplementäre Währung, die in der Lage wäre, Großprojekte zu realisieren. Es könnte also durchaus sein, dass dieses System auf Dauer seinen Platz behält.
Bei einer solchen Umstellung ist mit Widerstand aus dem System zu rechnen …
Das Geldsystem ist ein zentraler Mechanismus der Macht. Der Widerstand zeigt sich an ganz vielen Stellen. Natürlich muss der Übergang graduell ablaufen, wenn er friedlich stattfinden soll, und die rechtliche Seite müsste dafür vorbereitet werden. Wir müssen das System ja einführen können, ohne gegen Rechtsvorschriften zu verstoßen.
Kein Bereich unserer Gesellschaft ist so stark reguliert wie der Finanzbereich, und das aus guten Gründen. Deshalb bräuchten wir Gesprächspartner in der Bundesbank oder in der Politik, die uns helfen, diese komplementären Währungen so zu gestalten, das sie nicht missbraucht werden können. Es geht ja auch darum, mögliche Nachteile auszugleichen und zu verhindern. Es sollte zum Beispiel nicht plötzlich so viele komplementäre Währungen gibt, dass keiner mehr weiß, welche er für was benutzen kann.
Gibt Offenheit in Politik und Ökonomie für neue Ansätze?
Es wäre wirklich spannend, wenn es die gäbe, um die Vorteile zu nutzen, die diese Idee bietet. Solche Gesprächspartner müssten sehen, dass die komplementären Währungen in erster Linie Zwecke erfüllen würden, die das heutige System nicht erfüllen kann, weil es dafür nicht konstruiert wurde.
Mit Komplementärwährungen könnte man zum Beispiel ökologische, soziale oder kulturelle Projekte und Bildung finanzieren, ohne den Staat zu belasten. Alles, was das Leben lebenswert macht und für das es heute zu wenig Geld gibt, wäre damit in einem ganz anderen Umfang zu realisieren. Die jetzige Entwicklung könnte sich umkehren: Wir könnten aufhören, im materiellen Bereich zu wachsen, um im qualitativen und nicht-materiellen Bereich exponentiell zu wachsen.
Die Fragen stellte: Rasmus Elsner