Im Westen am weitesten verbreitet ist die Hatha-Yoga Praxis mit ihrem Fokus auf den körperlichen Übungen des Yogas. Wer gerne tiefer in die Materie einsteigen möchte, findet das richtige vielleicht im Kundalini Yoga. Wir geben eine kleine Einführung in diesen speziellen Yoga-Stil.
Was genau ist Kundalini Yoga?
Lieber Sascha, klären wir doch am Anfang erst einmal: Was bedeutet der Begriff “Kundalini”?
Kundalini ist die Energie des Körpers, das kreative Potential eines Menschen. Dieses Potential kann man mithilfe von Kundalini-Yoga “aufwecken”. Man kann sich das so vorstellen: Die Energie ist wie eine schlafende Schlange im Bereich des Beckenbodens, die sich, wenn sie aufgeweckt wird, an der Wibelsäule entlang nach oben aufrollt und dann ihr gesamtes Potential entfaltet.
Wie ist in diesem Fall “Potential” gemeint?
Es bedeutet, aus der Natürlichkeit heraus zu leben. Wir machen uns im Leben über so vieles Gedanken, versuchen, alles zu kontrollieren und entwerfen Konzepte, in die wir all unsere Erfahrungen hineinpressen wollen. Damit stehen wir uns selbst im Weg und können nicht mehr im Augenblick präsent sein. Wer aus seiner Natürlichkeit lebt, kann ein viel entspannteres Leben führen.
Worin unterscheidet sich die Kundalini-Praxis vom Hatha-Yoga?
Hatha-Yoga arbeitet sehr körperlich. Es werden dort zwar auch Mantras benutzt, zum Beispiel das OM, letztlich ist Kundalini-Yoga aber viel komplexer und hat viel spezifischere Übungen.
Zum Beispiel?
Kundalini Yoga ist ein ganzheitliches Konzept. Es hört nach der Meditation nicht einfach auf, sondern bezieht sich auf alle Lebensbereiche: Ernährung, Sexualität, Kleidung, den Umgang mit dem Tod. Und auch die Kundalini-Sitzungen selbst sind komplexer, denn durch die vielen unterschiedlichen Meditationen und Mantras können sie ganz speziell an die aktuellen Bedürfnisse des Schülers angepasst werden.
Wie wirkt Kundalini Yoga?
Man kann im Kundalini also an ganz bestimmten Dingen arbeiten?
Ja. Wenn jemand beispielsweise schlecht schlafen kann, ein geringes Selbstvertrauen oder Angst vor der Zukunft hat, dann kann man die Meditation beziehungsweise die Kriyas daran anpassen. Kriyas sind die Übungs-Abfolgen und es gibt Tausende davon. Ich als Lehrer bemühe mich natürlich, so viele wie möglich davon zu kennen, um immer die richtige zu finden.
Ich probiere sie aus und achte darauf, wie sie wirken und an welchen Themen man damit arbeiten kann. Welche Erfahrungen mache ich persönlich damit? Aber natürlich ist jede Erfahrung im Kundalini-Yoga eine individuelle.
Wie sieht denn eine typische Kundalini-Stunde aus?
Der Ablauf im Kundalini-Yoga ist festgelegt. Man stimmt sich ein mit einem Mantra, das einen mit der “goldenen Kette” zwischen allen Lehrern und Schülern verbindet, dem Ong Namo Guru Dev Namo. Dann folgt das jeweilige Set, das je nach Stunde ausgewählt wird.
Die Übungen innerhalb eines Sets sind immer genau festgelegt. Da kann man nicht sagen, diese oder jene Übung lasse ich jetzt aus, oder ich stelle diese jetzt mal an den Anfang und jene ans Ende. In diesen Sets gibt es dann zum Beispiel Pranayama, die Atemübungen, Mudras, die Handhaltungen, Mantras, die heiligen Verse und natürlich auch Asanas, die Körperhaltungen.
Abschließend folgt dann die End-Entspannung und vielleicht noch eine Meditation, außerdem stimmt man sich mit 3x Sat Nam aus. Alles in allem dauert eine Kundalini-Stunde meistens um die zwei Stunden.
Kann man Kundalini-Yoga ausüben, egal, welcher Religion man angehört?
Natürlich. Auch wenn Kundalini-Yoga stark mit der Sikh-Religion verbunden ist, muss man dieser nicht angehören, um vom Kundalini profitieren zu können. Das ist zumindest meine Meinung.
Es ist egal, ob du Jude, Moslem, Christ, Buddhist oder Atheist oder etwas ganz anderes bist. Wichtig ist, dass du an dir selbst arbeiten möchtest. Du kannst immer eine Erfahrung machen, die Erfahrung, dass Kundalini-Yoga wirkt und sich etwas in dir verändert. Andere Kundalini-Lehrer sehen das vielleicht anders, aber ich finde, es kommt auf deine persönliche Einstellung an.
Es gibt auch Stimmen, die Kundalini-Yoga für gefährlich oder gar eine Sekte halten…
Das ist Unsinn. Das einzig “gefährliche” am Kundalini-Yoga ist, dass du aus deinen alten Mustern herausgeworfen wirst und dich vielleicht mit Themen auseinandersetzt, die dir nicht gefallen. Veränderung macht vielen Menschen Angst. Manche wollen ihre alten Muster gar nicht abgeben, obwohl sie ihnen schaden, weil sie Angst davor haben, was danach kommt.
Das muss man nicht. Aus der eigenen Komfort-Zone auszubrechen, kann das Leben sehr bereichern. Es ist wie in dem Film Matrix: Wenn du einmal die Erkenntnis gewonnen hast, dass du dein Leben verbessern kannst, dann kannst und willst du nicht mehr zurück. Davor kann man Respekt haben, ja. Aber eine Gefahr birgt das nicht.
Gibt es so etwas wie ein Ziel des Kundalini-Yogas?
Präsent zu sein, im Hier und Jetzt. Erfahrungen, die man macht, nicht beurteilen und schon gar nicht verurteilen. In der Gegenwart leben, anstatt sich Sorgen über die Zukunft zu machen oder der Vergangenheit hinterher zu trauern. Dann kommt man innerlich zur Ruhe.
Yogi Bahjan hat mal gesagt, Erleuchtung ist, in jeder Situation entspannt zu sein. Aber mit dem Begriff Erleuchtung arbeite ich eigentlich nicht gerne, denn er beinhaltet schon ein so vorgefertigtes Konzept, dass man wieder direkt bewertet und abgleicht. Und genau das wollen wir ja nicht. Man kann also kein Ziel erreichen und dann ist für immer und ewig alles gut. Sondern es ist ein stetiger Prozess, ein Wachstum und jeden Tag ein bisschen Arbeit.
Die Fragen stellte: Manuela Hartung